You do not always need a plan.
Sometimes you just need to breathe,
trust, let go and see what happens.
Ich erinnere mich an den warmen Wind. An die Sonnenstrahlen, die schon bald hinter dem Hügel verschwinden würden. Ich erinnere mich an den unbeschreiblichen Duft der Lavendelsträucher, die mich von allen Seiten umgaben. An die Zitronenfalter, die zwischen der lilafarbenen Weite flatterten. Ich war alleine. Schon seit Stunden streifte ich durch die Felder und ließ das Glück über mich spülen. Ich rannte barfuß einen der Hügel hoch, für die Lavender Heights, unser kleiner Ort, so bekannt ist. Am höchsten Punkt ließ ich mich fallen und blickte in den Himmel, sah mir die wenigen Wolken an, ließ die letzten Sonnenstrahlen auf mein Gesicht scheinen. Ich erinnere mich daran, wie ich immer weiter lief, tiefer in die endlosen Lavendelfelder hinein. Mein Kleid wehte, während ich rannte, sang. Unser sandsteinfarbenes Haus konnte ich schon lange nicht mehr sehen, aber ich sagte mir damals, solange es hell war, dürfte ich noch ein Stück laufen. Solange es hell war, würde ich zurückfinden. Nur noch dieser eine Hügel. Nur noch sehen, was sich dahinter befand. Und hinter dem Hügel kam ein Hügel, dahinter ein weiterer, und während es immer dunkler wurde, lief ich weiter, zwischen den Lavendelsträuchern hindurch.
Irgendwann sah ich es. Ein großes Haus. Es stand mitten auf dem Feld, verlassen und dunkel. Von außen machte es den Eindruck, als wäre das Haus vor vielen Jahren einmal ein prächtiges Anwesen gewesen. Doch die Türmchen und Dachgiebel, die vielen Fenster und die schmutzige, von Eufeuranken bewachsene Fassade ließen darauf schließen, dass das Haus schon lange leer stand. Ich lief einmal um das Anwesen herum. Bewegte mich schließlich zögernd auf die Tür zu. Durfte man einfach so in ein fremdes Haus eintreten? Auch wenn es niemand mitbekommen würde? Wahrscheinlich nicht. Aber ich fror mittlerweile erbärmlich in meinem kurzen Sommerkleid. Vielleicht würde ich etwas Warmes finden, was ich mir ausleihen könnte. Wahrscheinlich war es die Aussicht darauf, mich vor dem langen Rückweg noch etwas auszuruhen, die mich dazu brachte, die Tür schließlich zu öffnen. Denn damals war ich noch fest davon überzeugt, in derselben Nacht nach Hause zurückzukehren. Ich konnte nichts von dem ahnen, was noch in dieser Nacht an diesem Ort passieren würde.
Die Tür knartzte, ließ sich jedoch öffnen. Vorsichtig lief ich einige Schritte in das Haus hinein und wurde von der Dunkellheit verschlungen. Man sah nichts, keinen einzigen Umriss. Ich beschloss, die Haustür offen zu lassen, sodass das spärliche Mondlicht immerhin den Eingang erhellte. Nun erkannte ich die vielen Spinnenweben, die von der Decke hingen. Dieser Raum war früher allem Anschein nach eine Empfangshalle gewesen. Der nun staubige Boden aus Marmor ließ meine Schritte gespenstisch wiederhallen. Kristallleuchter an der Decke klimperten leise durch den hereinfegenden Wind der offenen Tür. In der Mitte des Raumes führte eine breite Treppe in obere Stockwerk. Zögernd ging ich darauf zu, halb in der Befürchtung, eine Hand auf meiner Schulter zu spüren, ob es nun eine Lebendig war oder nicht. Doch nichts passierte. Am Fuß der Treppe fand ich einen Kerzenständer. Daneben lag eine hölzerne Schachtel, in der sich Streichhölzer befanden, genau so alt wie der Rest des Hauses. Vorsichtig nahm ich ein Streichholz aus der Schachtel, nicht wirklich in der Erwartung, eine Flamme zustande zu bringen. Doch zu meiner Überraschung brannte das Zündholz lange genug um eine der Kerzen anzuzünden. Mit meiner neuen Lichtquelle in der Hand begann ich, die Treppe hinaufzusteigen.
Vom verlassenen Korridor zweigten viele Türen ab. Ich beschloss, auf gut Glück die erste dieser Türen zu öffnen. Vorsichtig legte ich meine Hand auf die Kalte Klinke. Warum war dieses Anwesen eines offensichtlich reichen Menschen so verlassen? Warum hatte dieses Haus seit Jahren niemand mehr Betreten? Was war passiert? Ich redete mir ein, dass es sich sicher nur um eines von mehreren Häusern handelte, die alle dem Besitzer gehörten. Sicherlich wollte dieser jemand einfach nicht herkommen, weil er noch drei weitere Häuser zur Verfügung hatte. Den Gedanken daran, dass er nicht mehr zurückkommen konnte, verdrängte ich eisern.
Ich zählte bis zehn, dann atmete ich geräuschvoll aus und drückte die Klinke der ersten Tür herunter. Mit einem knarren schwang sie auf. Sofort flogen Tauben durch den Raum, die in dem Raum nisteten. Federn und Schmutz schwebten durch die Luft. Das unerwartete Geräusch beschleunigte meinen Herzschlag. Es sind nur Tauben, versuchte ich mich zu beruhigen. Doch das Gefühl von Einsamkeit, das sich plötzlich in mir ausbreitete, beruhigte mich wenig. Ich war hier in einem fremden Haus, das seit Jahrzehnten unbewohnt zu sei schien. Ich war alleine, mit ein paar Tauben. Meine Eltern saßen zu Hause, weit weg von hier, und eine endlose dunkle Nacht lag zwischen mir und ihnen. Es war kalt, und es war unheimlich. Ich ließ mich an der Wand nach unten sinken, bis ich den kalten Boden unter mir spürte.
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Lavendelsommer
Mystery / Thriller"Vielleicht war es die Leichtsinnigkeit, die mich die Tür öffnen ließ. Vielleicht war es die Leichtsinnigkeit, die mich dazu überredete nicht umzukehren und zu gehen. Vielleicht war es die Leichtsinnigkeit, die mir das größte Abenteuer meines Lebens...