„Herzlichen Glückwunsch, Sie sind der Millionste Besucher auf dieser Website!"
Genervt schließe ich das unwillkommene Pop-Up-Fenster. Lächerliche Werbung, unpersönliches Zeug. Damit wollen sie einen doch nur in die Falle locken. Ich schnaube kurz, dann wird mein Blick wieder steif. Ein Klick auf den Browser, schnell getippt, schon befinde ich mich auf der Startseite der Videoplattform. Kurzes Scrollen, dann ein Treffer mit der Maus. Kurz wird mir schwarz vor Augen, dann öffnet sich rasend schnell der Clip. Trailer zum neusten Superheldenfilm. Noch einer, den jeder sehen muss, den jeder aber eigentlich auch schon kennt. Immer das gleiche, so wie immer.
Starr beobachte ich den maskierten Rächer, wie er zwischen Häusern entlangrast, wie er blassen Bösewichten die Falten aus der Visage prügelt, wie er die Liebe seines Lebens verliert und vor Wut unschuldige Bürger massakriert. Kampf mit dem Selbstzweifel, letztlich obsiegt aber doch der gute Wille. Wie immer. Ich bin nicht beeindruckt. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr. Ist schon spät, aber will nicht schlafen. Muss morgen früh aufstehen, immerhin wartet die Arbeit nicht auf mich. Finde ich ehrlich gesagt auch nicht schlimm, doch man muss seinen Dienst tun. Keine weiteren Gedanken an die Mühsal verschwenden, lieber in den Kommentarbereich blicken.
„superhamster63" schreibt: „Richtig schlecht gemacht. Kann man sich ja nicht anschauen! Zum Teufel mit diesen vollidioten! Pfui!!!"
Typische Reaktion auf der Plattform, eigentlich überall. Leute sind unbekannt in den Weiten dieses Kosmos. Können sagen, was sie wollen, kontrolliert ja keiner. Das Internet ist längst Quelle und Atemkammer allen Hasses und Neides auf der Welt. Man sagt ja sonst nirgendwo mehr etwas. Lese weitere Rezensionen, durchweg Abneigung, nur ein paar nette Worte. Wie gewohnt.
Kurzes Piepen. Eine Nachricht erreicht mein Postfach. Verkrampft öffne ich.
„Wenn du Bastard uns nicht bis zum Ende der Woche Fünftausend überweist, werden wir dich abstechen!"
Kurz grinse ich. Fast schon amüsant. Dann schließe ich den Chat und lösche die Message. Lächerlich leere Drohungen. Reine Erpressereien und wüster Vandalismus, nichts weiter. Die anonyme Masse ist breit und nimmt sich einiges heraus. Ich lasse ihr ihren Spaß. Keiner kann einen belangen, dessen Identität unbekannt ist. Ebenso kann keiner dieser übermütigen Hooligans mich einschüchtern. Es ist normal, wie ein Spiel. Ausgelassene Energie, die auf den Straßen zurückgehalten werden muss. Früher war das hier eine wilde Gegend. Banden beherrschten die Gassen, schwarze Geschäfte direkt vor meiner Haustür, Demonstrationen und Barrikadenkämpfe an jedem Sonntag. Das war alles vor der Gleichschaltung.
Wieder die Uhr. Volle Stunde. Gleich werden sie mich also wieder anzapfen, um meinen Status zu checken. Kaum gedacht, schon geschieht es: Kurzes Leuchten an meinem Computer, dann ein Foto, kurzes Fiepen, dann wird die Mail mit meinen Informationen verschickt. Früher benutzten sie dafür noch unnötige Spam-Mails und viel zu detaillierte dubiose Anmeldeformulare. Doch heute machen sie keinen Hehl mehr daraus, die Großen, nehmen uns unsere Daten einfach ab, als würden sie uns melken. Es sagt ja auch keiner mehr was, seit der Gleichschaltung.
Früher, da wäre man Protestieren gegangen. Die Menschen hätten sich erhoben und denen da oben die Fensterscheiben mit Pflastersteinen zertrümmert. Die Bewohner dieser Stadt, besonders dieser Straße, hatten Stolz. Sie waren ehrenvolle, übermotivierte Menschen. Keiner musste allein im Dreck liegen, denn es gab Freunde. Keiner bunkerte seinen Reichtum aus egoistischen Gründen, denn es gab Liebe. Jetzt ist keiner mehr da draußen, seit der Gleichschaltung.
Ich blinzele ein paar Mal. Der Blitz der Überwachungskamera war wie immer viel zu hell eingestellt. Plötzlich vibriert mein Tisch. Noch immer leicht blind greife ich schwach nach meinem Smartphone und lese die Nachricht.
„85631, bitte begeben Sie sich ins Bett. Morgen, Punkt 07:00 werden Sie im Werk erwartet."
Dieser Schritt ist selbst mir neu. Observation der Schlafgewohnheiten. Ein kurzer Schauer überkommt mich, auch wenn mich eigentlich nichts mehr wundert. Die wissen schließlich alles.
„85631", das bin ich. Eine Nummer. Seit der Geburt leben wir durch Nummern. Das wievielte Kind? Welcher Notendurchschnitt? Welches Gehalt? Codes und Passwörter. Chips und Bankdaten. Zahlen bestimmen uns. Sie machen uns berechenbar. Damals haben sie dann eben entschieden, einfach gleich jedem Individuum eine Kombination zuzuweisen. Zur Erleichterung des gemeinen Zusammenlebens, hieß es. Meinen richtigen Namen, den, der mir bei meiner Geburt gegeben wurde, weiß ich kaum noch. Manchmal fällt er mir ein, aber ich fühle mich ihm nicht zugehörig. Schuld daran ist die Gleichschaltung.
Es fing alles an mit den Skandalen. Als die Menschen erfuhren, dass man sie überwacht, war es schon lange zu spät. Sie hatten alles von uns, alle Informationen. Wann wir wo wie lebten, wo wir herkamen, wen wir kannten, wer wir waren, was wir sind. Anfangs gab es riesige Gegenwehr aus der Bevölkerung. Menschen stürmten die Straßen, protestierten, demonstrierten ihren Unwillen. Sooft die Großen auch dagegen anstürmen ließen, den Willen der Menschheit nach Freiheit und Selbstbestimmung konnten sie nicht brechen. Doch die Strategie wurde geändert. Plötzlich waren alle zahm, plötzlich wagte keiner mehr den Aufstand, plötzlich waren wir Teil des Systems, das wir verachteten. Die Gleichschaltung hatte begonnen.
Anstatt ihren Untertanen sklavisch die Unabhängigkeit zu nehmen, gaben sie ihnen einen unkomplizierten Weg vor. Das Leben wurde schlichtweg erleichtert, gleichgeschaltet. Von nun an war Herkunft und Ethnie egal, Name und Alter zählten nicht mehr. Fortan lebten wir alle in einem Staat, sprachen eine Sprache, hatten einen Herrscher. Jeder bekam eine Nummer, jeder erhielt eine Arbeitsstelle, eine Unterkunft, einen Unterhalt – ein vorgefertigtes Leben. Beworben wurden diese Schritte mit der Gleichmachung aller, der Überwindung von Missständen, dem Glück für jeden. Ein Kosmopolit sei frei, werde gerecht behandelt und lebe in guten Umständen, hieß es. Eine gute neue Welt für Menschen aller Klassen und Schichten.
Doch das war nur Manipulation. Die Bürger fügten sich bereitwillig in ihr Schicksal und erkannten nicht, was sie aufgaben. Nämlich sich selbst. Früher war das hier eine Gegend mit Ecken und Kanten, heute ist alles glatt, gleich, nahezu perfekt. Eine anonyme Masse lässt sich leicht kontrollieren, wenn sie wie Puppen von der Obrigkeit gelenkt wird. Ohne eigene Ideale und Werte, ohne Ansichten und Meinungen lässt sich schließlich kein Widerstand erwirken. Sie sagen uns, was wir sind - und wir sind es.
Mein trüber Blick schweift wieder auf den Bildschirm. Schweiß rinnt von meiner Stirn. Meine Finger zittern leicht. Mein Herz bebt. Ich fokussiere das Gesicht des klischeebehafteten Superhelden vor mir. Eine Maske verbirgt seine Identität. Ich muss lachen. Ein Ruck durchfährt mich. Aus einem mir unerfindlichen Grund erhebe ich mich. Es schmerzt, meine Gelenke knacken, doch ich schaffe es. Griff zu Mantel und Hut. Bis zum Kragen zugeknöpft und die Krempe ins Gesicht gezogen öffne ich langsam die Tür meiner Wohnung. Es riecht muffig und kühl. Treppen hinunter, sechs Stockwerke. Dann öffne ich die Pforte.
Ein Schrei ertönt in der Nacht. Die Straßen sind menschenleer. Wieder der Lärm, aber keiner reagiert. Eine dunkle Gestalt bahnt sich den Weg durch die graue Finsternis. Ihr Atem ist zügig, der Gang beschwingt, fast federnd. Die düstere Stadt wird hell und klar. Bäume grünen wieder und Reklametafeln leuchten in bunten Farben. Plötzlich ertönt eine gepfiffene Melodie. Die Stimmung ist ungewohnt kräftig.
Aus dem Nichts schwirrt etwas durch die Luft und trifft das Fenster eines gigantischen Gebäudes, auf welchem die Inschrift „Regierung" prangt.
Lauthals schreie ich meinen Namen in die Morgendämmerung. Dann grinse ich schelmisch.
Diese Welt braucht Helden ohne Maske.
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Gesichtslos
Short StoryMein Beitrag zum "Junge Autoren" Wettbewerb des Muenstermann Verlags zum Thema Identität. Ich hoffe, es gefällt euch:)