Kapitel eins - Ein neues Leben

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Lauwarme Regentropfen prasselten auf ihren Kopf, als sie, das Gepäck in ihrer Hand, Die U-Bahnstation verließ. Man hatte ihr einiges über London erzählt, das meiste jedoch hatte mit Regen zu tun. Eigentlich mochte sie verregnete Tage sogar, wenn man in seiner Wohnung still vor sich hin schreiben konnte, inspiriert von dem dumpfen Geräusch der Regentropfen, welche auf den Fensterscheiben aufkamen und man die Hände an einer wohltuenden Tasse Kaffee wärmen konnte, dessen Dampf den Raum erfüllte und ihn augenblicklich wärmer erscheinen ließ. Auf diese Jahreszeit freute sie sich besonders, gerade jetzt, wo sie doch in London lebte, der Stadt der unendlichen Chancen. Heute jedoch, am ersten September, hatte sich eine bedrückende Schwüle ausgebreitet. Das helle Licht blendete sie, also hob sie die Hand an ihre Stirn und versuchte sich zu orientieren. Menschen rasten hektisch an ihr vorbei, sie vernahm aufgeregte Telefongespräche und hitzige Diskussionen aufgebrachter Mütter, welche entnervt ihre Kinder hinter sich herzogen. Deshalb mochte sie London bereits jetzt. Man konnte sie beobachten, die Szene mit ansehen, welche sich augenblicklich zutrug. Es war eine Momentaufnahme derer Menschen, die an einem vorbei rannten, niemals jedoch kannte man deren Geschichte. Man war kein Opfer ländlichen Tratsches, keine bloße Ausgeburt einer Generation, welche man gut kannte und deshalb glaubte auch deren Nachfahren zu kennen. Nun konnte man entscheiden, wem man seine Geschichte erzählt, und wann es besser ist sie für sich zu behalten. Bis dahin war man also bloß der flüchtige Eindruck einer Szene, welche man von sich preisgegeben hatte. Und wenn man, wie sie es tat, es liebte sich bedeckt zu halten, blieb einem für immer das Geheimnis seiner wirklichen Existenz.

Die Straße, in welcher sie sich befand, war besiedelt von indischen Restaurants, aus dessen Fenstern sich eine stechende Wolke einprägenden Currygeruchs verflüchtigte. Draußen an den Tischen saßen ausländische Familien, redeten und aßen miteinander. In diesem Teil Londons hörte sie nicht viele englischsprachige Menschen, bis sie auf einen kleinen Blumenladen, an der Ecke zur nächsten Seitenstraße, stieß. Sie sah, wie eine schlanke Frau mit tief rotem, lockigen Haar, sich bückte, um Blumentöpfe anschaulich zu drapieren. Sie war um die Mitte sechzig und über ihrem altmodischen Lila Kleid trug sie eine weiße, mit Rüschen besetzte, Schürze welche bereits beschmutzt war mit einigen Erdflecken. Als sie mit ihrem Koffer in der Hand näher trat, fielen ihr besonders die verlebten Augen auf, die so viel Schmerz in sich trugen, sie aber dennoch freundlich anlächelten. „Neu hier, eh?", fragte sie freundlich. Sie nickte und bat die Frau darum ihr den Weg zu sagen. „In diesem Stadtteil ist man wie eine große Familie", erklärte die Frau mit zittriger Stimme und starkem schottischen Akzent. „Neue Gesichter erkennt man sofort, wenn man schon sein halbes Leben hier verbracht hat". Sie musste ihre Verwunderung gesehen haben, über ihre Feststellung sie sei neu hier. Die Frau beschrieb ihr den Weg, sagte sie müsse links abbiegen und dann ein ganzes Stück gerade aus. Dankend nickte sie und wollte sich gerade abwenden, da streckte die Frau ihr zittrig eine Rose entgegen. „Hier, mein Lass", sagte sie warmherzig, „Sie soll dir Glück bringen, in deinem neuen Heim". Normalerweise hätte sie es komisch gefunden, doch auf eine merkwürdige Weise war sie glücklich über ihr Willkommensgeschenk. Einen Moment lang sah ihr die Frau nach, bis sie langsam hinter der Kurve verschwand und tiefer in das Herz Londons eindrang. Es war sehr viel ruhiger in den emsig wirkenden Straßen. Beinahe endlos scheinend erstreckten sich weiße, aneinandergereihte Hausfassaden an beiden Straßenseiten. Manche von ihnen wurden von zwei großen Säulen am Eingang, im griechischen Baustil geziert, so auch jenes, welches nun ihr zu Hause war. Aufatmend erklomm sie die Stufen und drückte mit schwitzigen Händen die Klingel. Einen Moment lang war es still, dann jedoch konnte man deutlich laute Schritte hören, welche sich der Tür näherten. Das Klimpern eines Schlüsselbundes an der anderen Seite der Tür signalisierte, dass sich jemand im Haus befand. Knarzend öffnete sich die Tür. Eine sehr große, schlanke Frau, mit braunen Augen sah sie erwartend an. Es dauerte einen Moment, ehe die junge Frau begriff und sich ein breites Lächeln auf ihre Lippen legte. „Du musst Alice sein!". Sie streckte ihr zuvorkommend die Hand entgegen, welche Alice bereitwillig ergriff und innig hoffte sie würde nicht die Schwitzigkeit bemerken, welche ganz ihre Nervosität offenlegte. „Komm rein.", Immer noch lächelnd hielt die Frau die Tür auf und ließ Alice eintreten. „Ich bin Lilian. Deine Anfrage hat mich zunächst wirklich erstaunt, so kurzfristig und dann bist du noch so jung und kommst von so weit her! Ich möchte gar nicht neugierig sein, oder nachhaken, schließlich hatten wir doch alle mal diese Phase mit achtzehn, nicht wahr? Dieses Gefühl weg zu müssen." Alice empfand ihre Stimme als sehr sanft, und trotz, dass sie anscheinend viel redete, störte es Alice nicht. Sie konnte ihr gut folgen, während sie einen sehr hell eingerichteten Flur entlanggingen, dessen Wände in einem blassen weiß gestrichen waren. Trotz der blendenden Reinheit, die die Wände und Möbel ausstrahlten, fühlte sich Alice augenblicklich wohl. „Ich jedenfalls komme vom Land", berichtete Lilian weiter, „und glaub mir, so sehr ich unser Haus und meine Familie auch liebe, umso froher war ich dennoch dort wegzukommen. Hat man einmal Londoner Luft geschnuppert, brauch man diese zum Atmen." Inzwischen hatte Alice auch Küche und Wohnzimmer gesehen und sie gingen eine lange, spiralförmige Wendeltreppe hinauf. „Ich hoffe es macht dir nichts aus oben zu schlafen. Das Haus ist alt, daher auch sehr sensibel, aber bisher habe ich hier alleine gelebt und es ist nie etwas vorgefallen. Zudem ist deines das einzige Zimmer oben, und meins liegt bloß die Treppe runter". Es war klein und zugig. Auch die Wände dieses Zimmers waren weiß gestrichen, links an der Wand stand ein Einzelbett mit einem kleinen Nachttisch daneben. Es gab nicht viele Möbel bis auf das Bett, den Nachttisch und einer Garderobe. Ein kleiner Spiegel hing neben der Garderobe, er hatte einen vergoldeten Rahmen. „Noch ist es leblos und kahl, aber du kannst ihm wieder Leben schenken und es gestalten, wie immer dir lieb ist." Alice redete nicht viel, sie ließ die Eindrücke auf sich wirken und bemühte sich, sich ein Leben in diesem Zimmer vorzustellen,  auszumalen, wie sie es gestalten würde, damit man sah, dass es ihres war. „Ein so altes Haus wie dieses, braucht Leben, das es ausfüllt um an Beständigkeit zu gewinnen. Besonders junges Leben tut ihm gut." Alice ging mehr in den Raum hinein. „Es ist wundervoll", sagte sie leise und lächelte schwach. „Ich lasse dich einen Moment alleine und schütte uns unten einen Tee auf. Komm einfach dazu, wenn du bereit bist". Lilian zog sich verständnisvoll zurück und schloss die Tür hinter sich. Schlagartig fand sich Alice allein in diesem Raum und zum ersten Mal, seit sie zu dieser Reise aufgebrochen war, konnte sie ihre Gedanken hören, die sich in ihr Hirn fraßen. Sie war glücklich über ihren Neuanfang, glücklich die Chance erhalten zu haben. Mehrere Male hatte sie überlegt, ihr haselnussbraunes Haar blond, oder schwarz, oder rot zu färben und den Menschen, der sie einst war, restlos auszulöschen. Doch dann traf sie die plötzliche Angst noch weniger zu wissen, wer sie wirklich war, wenn sie sich selbst derer Merkmale bestahl, die sie doch ausmachten. Denn im Prinzip hatte sie keine Ahnung, zu was sie im Leben berufen war. Sie lebte. Aber sie lebte ein Leben, welches sich nicht anfühlte, als wäre es ihres. Dies hoffte sie nun endgültig zu ändern. Sie zog ihren Mantel aus und hing ihn in ihre Garderobe, lächelte schwach, als urplötzlich das Zimmer den ersten persönlichen Schliff bekam. Ihren braunen Koffer legte sie auf das Bett und öffnete ihn, in der Hoffnung bald in der Lage zu sein ihn auszupacken. Vorerst jedoch ließ sie ihn dort liegen. Normalerweise reisten die Leute mit viel Gepäck, wenn sie umzogen. Ihr Koffer jedoch war leicht, sie trug nicht viel mit sich. Demnach war ihr erster Anhaltspunkt in London sich völlig neu zu gestalten. Zögernd warf sie einen Blick in den kleinen Spiegel, bemerkte die großen Augenringe, welche mehr über ihren Zustand verrieten, als Alice lieb war. Ihr Haar war zerzaust, wilde Locken hatten sich aus ihrem Zopf gelöst, sodass sie ihn öffnete und sich mit den Fingern durch das Haar fuhr, bis es einigermaßen ordentlich über ihre Schulter fiel. Ein letzten tiefen Atemzug nehmend, wandte sie den Blick ab und verschwand durch die knarzende Tür nach unten.

„Möchtest du Tee, Alice?". Alice schloss kurz die Augen, als ein scharfer Schmerz ihren Kopf durchdrang, ausgelöst von dem lauten Klang klassischer Musik. „Entschuldige bitte". Lilian hastete zur Fernbedienung und stellte die Musik leiser. „Stört dich die Musik? Ich höre sie gerne, wenn ich für mich alleine bin. Sie ist so bestimmt, dennoch sehr sanft im selben Moment. Bisher war ich stets alleine, ich versuche mich wieder auf einen neuen Bewohner einzustellen", Lilian setzte sich auf einen der hölzernen Stühle und schob eine Tasse Tee dem Platz ihr gegenüber entgegen. „Nein", sagte Alice und ließ sich auf den leeren Stuhl sinken. „Ich mag die Musik eigentlich sehr. Was war das für ein Stück?", sie nickte in Richtung der Anlage. „Das war Beethovens neunte Symphonie. Ich mochte ihn schon als kleines Mädchen." Sanft legte Alice ihre Hände um die warme Tasse. „Arbeitest du mit etwas musikalischem?", fragte sie Lilian. „Ich studiere Tanz. Ich hatte viele Vortanzen, war jedoch für keine Companie gut genug. Das Royal Ballet hat sich nicht einmal gemeldet. Das ist wohl das Los vieler Tänzer, nicht? Letztlich endet man an irgendeiner Tanzschule und unterrichtet, während man sich immer fragt, ob wirklich das seine Erfüllung ist. Es ist ein hoffentlich fester Job, das ist viel wert für einen Student. Du weißt schon, eine Perspektive zu haben." Alice Hände hatten unter dem Tische zwei feste Fäuste gebildet, sie bemühte sich einer ausgeglichenen Atmung. „Hast du auch getanzt? Als Kind, vielleicht? Mir ist deine gerade Haltung aufgefallen und die Stellung deiner Füße." Alice schluckte. „Nein", erwiderte sie schließlich auf die Tasse blickend. „Ich bin nicht wirklich der sportliche Typ." Lilian lächelt. „Was verschlägt dich denn nach London?". Alice wandte ihren Blick von der Rauchwolke des Tees ab und sah sie an. „Ich habe ein Vorstellungsgespräch bei einer Zeitschrift hier". Lilian machte große Augen. „Eine Journalistin?". Alice nahm einen tiefen Atemzug. „So in etwa. Ich habe nicht studiert, aber ich las etwas über den Job in der Zeitung." Lilian stand auf, nahm auch Alice' Tasse an sich und stellte sie in die Spüle. „Das ist sehr schön, dann wird dieses Haus jedenfalls von kreativen Menschen belebt. Überleg mal, wie furchtbar trocken es wäre, einen Mathematiker, oder sogar einen Juristen hier sitzen zu haben!". Alice lachte ein wenig, wusste aber dennoch nicht recht, ob sie wirklich ein kreativer Mensch war. Das Kompliment ließ sie aber im Raum stehen und bereicherte sich an seiner Wirkung. „Und was ist das für eine Zeitschrift? Eines dieser schönen Klatschmagazine, die jede Frau irgendwann mal braucht?". Alice schmunzelte und schüttelte leicht den Kopf. „Nein", sagte sie ganz langsam. „Es beschäftig sich mit Gewaltopfern".

Violent LoveWhere stories live. Discover now