Hades und Persephone

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Die Dunkelheit waberte in dicken, undurchdringlichen Schwaben durch die Höhle, erfüllte jede noch so kleine Ecke und erstickte jedes noch so kleine Licht. Tropfen waren zu hören, wie sie auf den kalten Boden fielen. Ein trister, stetiger Ton, hypnotisierend. Persephone saß zusammen gekauert in der hintersten Ecke ihrer Zelle und beobachtete die Wellen, die unterhalb des Glasbodens tosten. Ihre Wildheit gab ihr Hoffnung. Hoffnung auf einen Ausweg. Auf Freiheit.
Die Wellen schlugen gegen eine Wand aus Obsidian. Schwarz, kalt, gnadenlos- wie alles, was sie bisher in diesem Palast gesehen hatte. Sie sah es jeden Tag. Den Schrecken, den die Dunkelheit mit sich brachte. Das Verderben. In den Höhlen, die den Gefangenen, auch ihr, ein Zuhause waren, existierten keine Träume, keine Bilder aus der Heimat oder die Vorstellung einer besseren Welt außerhalb dieser Mauern. Wo Schmerz und Tod eine weit entfernte Wahrheit waren. Wo Frieden vorherrschte und sich nicht erschüttern ließ. Davon hatte sie immer geträumt, aber das war vorbei, lange bevor sie diese Höhlen betreten hatte.
Manchmal hörte Persephone andere Gefangene unruhig atmen, hörte sie schreien, weinen, Nacht für Nacht. Hörte sie sterben. Sah die Schatten, die ihre leblosen Körper ohne auch nur den Hauch eines Gefühls aus ihren Zellen schleiften. Sie sah die Wachen, die ihr Tag für Tag Essen brachten. Sie waren eins mit der Dunkelheit, ähnelten dem menschlichen Skelett, die Flügel mit zerzausten Federn geschmückt. Eine schöne Ironie. Sie waren ebenso Gefangene wie Persephone und all die anderen, doch waren sie willenlos, und völlig ihrer Majestät ergeben. Marionetten in seinem krankhaften Spiel.
Manchmal wagten die Gefangenen zu tuscheln. Wenn sie sicher waren, dass die Wachen anderweitig beschäftigt waren. Sie sprachen über nichts von Belang.

Erzählten sich Lügen über ihr Zuhause​, gaben sich etwas, an dem man sich festhalten konnte. Nicht, dass es von Bedeutung gewesen wäre. Niemand hatte je den Palast lebendig verlassen, geschweige denn das Gefängnis.
Sie waren schon sehr lange in den Höhlen unter dem Palast gefangen. Einige begannen bereits mit ihrer Zelle zu verwachsen. Zeit spielte hier keine Rolle. Zehn Jahre, fünfzig Jahre... Die Zeit hatte hier ihre eigenen Regeln.
Es waren nicht mehr viele unter den Lebenden. Und sie alle hatten sich aufgegeben.
Dunkle, metallene Schritte stiegen die schier endlose Treppe zur Höhle hinab. Die Schatten zogen sich zusammen und schienen sich zu verneigen. Es war nicht das erste Mal, dass er sie in den Höhlen besuchte. Er tat es oft mehrmals am Tag. Und so konnte sie sagen was als nächstes geschehen würde. Er würde sich von einem der Schatten einen Schemel geben lassen, sich darauf setzen und sie durch die Gitterstäbe hindurch ansehen. Ohne Furcht, ohne Arroganz. Nur der Mann hinter seiner grausamen Fassade. Sie konnte ihn sehen, sein reines Herz, seine puren Absichten. Es dürstete sie von ihm zu erfahren, warum er mit solch einer Grausamkeit agierte, wenn er zu so einer Liebe fähig war. Einer Liebe, die sie sich sehnte zu erfahren.
"Guten Abend, Persephone", grüßte er sie und ein Ausdruck von Sehnsucht trat in seine Augen. Nicht zum ersten Mal. Nie hatte sie ihm geantwortet, nie hatte sie ihm das Privileg gewährt sie sprechen zu hören. Er hatte sie schließlich immer noch entführt. Ob er sie je freilassen würde? Was nutzte sie ihm in den dunklen Höhlen seines Palastes? "Wirst du je antworten?", fragte er sie. Es war eine rhetorische Frage. Er seufzte. "Es muss nicht so laufen. Schenk mir dein Vertrauen und ich nehme dich mit nach oben", erklärte er, sein Tonfall war nahezu flehend. Als sie keine Regung zeigte, fuhr er fort. "Ich habe dir etwas mitgebracht." Er zog ein Rosenquarz farbenen Stoff aus seiner Manteltasche und hielt ihn ihr durch das Gitter hin. "Ich dachte dir würde es vielleicht gefallen", murmelte er und senkte den Kopf.

Noch immer rührte sie sich nicht. Er legte seine Hände an die Stäbe. "Willst du es nicht?", fragte er verzweifelt, "Gefällt es dir nicht?" Keine Reaktion. Seine Augen wurden dunkel. Der junge König. Voller Dunkelheit und Ungeduld, auf der Suche nach seinem ganz persönlichen Licht. Umgeben von noch mehr Dunkelheit.
Der markante Geruch verbrannten Metalls stieg ihr in die Nase, dann erkannte Persephone was er getan hatte. Die Gitterstäbe ihrer Zelle waren geschmolzen wurden und das Metall, noch immer flüssig lief in einer obsidianschwarzen Pfütze zu ihren Füßen zusammen.
Fliehen. Sie konnte fliehen, würde die Freiheit erfahren, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Er würde sie nicht aufhalten. Er wäre überrascht. Er war es jetzt schon.
Sie beobachtete ihn, wie er auf seine glühenden Handflächen sah, Furcht in den Augen. Diese Magie war ihm nicht neu, doch hatte er sich stets bemüht das Monster in ihm zu unterdrücken, hatte sich stets um Kontrolle bemüht. Doch wenn es um sie ging, dann war Kontrolle das letzte über das er nachdachte. Ihn in diesem Zustand, jenseits aller Kontrolle zu sehen machte ihn unglaublich verletzlich, zeigte der Welt den kleinen Jungen, den er tief in seiner Brust vergraben hatte.
Seine Augenlider flackerten als er versuchte zu ihr auf zusehen. Suchte nach dem Ausdruck von Schrecken oder Furcht in ihren Augen. Doch da war nichts.
Persephone schreckte nicht vor seiner Dunkelheit zurück. Ihre eigene Dunkelheit war ein Vielfaches seiner.
"Verzeiht meinen Ausbruch", seine Stimme voller Reue verriet, wie es tief in ihm aussah. Er hatte Angst. Angst vor sich selbst und vor dem, was sie noch mit ihm anzustellen vermochte.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie sah ihn an. Es gibt nichts zu verzeihen, schienen ihre Augen ihm mitteilen zu wollen. Sie hoffte, dass er verstand. Und er wagte ebenfalls ein Lächeln.
"Haltet mich nicht für ehrenlos", bat er und das Lächeln verschwand, dann deutete er auf den Stoff in seiner Hand, "darf ich es euch anziehen?"
Überraschung breitete sich in ihrem Körper aus. Sie konnte seine Finger spüren, wie sie auf ihrer Haut Kreise fuhren. Sie konnte das Feuer knistern hören, dass zu brennen anfangen würde, sobald er Hand an sie legte.
Sie erhob sich und sah ihm in die Augen. Eine stumme Einwilligung.
Geschickt trat er über die hart gewordene Lache von Eisen und überwindete all die Grenzen zwischen ihnen.
Er stand vor ihr. Nur der Junge. Der gutherzige Mann. Das Gute. Seine Augen waren hell wie Smaragde und durchdringend wie Feuer, in der Lage in ihr tiefstes Selbst zu blicken. Und doch waren sie getrübt, in ihnen tobte ein wilder Sturm. Derselbe Sturm, der auch in seiner Seele tobte.
Sie hatte den Gestank von Parfum erwartet, doch sie konnte nur Eisen und Pferd an ihm riechen. Sie versuchte ein Lächeln zu unterdrücken. Vergeblich. Sie sah wie ein ebenso schüchternes Lächeln auf seinen Lippen erschien. Seine Wangenknochen waren hoch und sein Kinn markant. Die Haut war von der Sonne geküsst und stand in Kontrast zu seinen hellen Haaren. Sie waren lang und glänzten. Strähnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und umrahmten sein Gesicht.
Er war schön.
Persephone griff nach ihrem langen Zopf und löste ihn langsam auf. Sie wollte seine Berührungen spüren. Ja, er war ihr Entführer, doch, wenn sie ehrlich war, dann ging es ihr nie besser als bei ihm. Sogar in ihrer Zelle in der Höhle hatte sie es besser als bei ihrer Familie. Sie hatte ein Bett, Nahrung und Gesellschaft. Mehr hatte sie sich nie zu träumen erhofft. Wider aller Vernunft hatte sie sich eingestanden, dass ihrem anfänglichen Hass, auf ihn, auf die ganze Welt einem künstlichen Hass gewichen war, welchen sie bereit war herunterzuschlucken. Sie würde ihr Leben bei ihm verbringen müssen, es gab niemanden, der sie retten würde, keinen Ort den sie ihr Zuhause nennen konnte. Sie müsste das beste aus ihrer Situation machen. Und das Beste würde jetzt sein, sich ihm hinzugeben. Wenn auch nur für diesen einen Moment. Hinterher würde sie weiter sehen.
Er beobachtete sie. Sah, wie ihre Haare sich um ihren Körper schmiegten, wie ein Schild."Willst du dich ausziehen?", fragte er, in der Hoffnung sie würde verneinen und ihm die Möglichkeit geben. Und das tat sie. Sie schloss die Augen und ließ die Arme fallen, spürte seine Anwesenheit. Genoss die Flammen, die an ihrer Haut züngelten. Seine raue Hand strich über ihre linke Schulter, und nahm den Träger ihres Kleides mit sich. Sie hörte ihn scharf einatmen, nachdem er sich der anderen Schulter zugewandt und den Vorgang wiederholt hatte. Das Kleid war zu Boden gefallen. Sie stand vor ihm, nackt. Entblößt und verletzlich. Doch sie fühlte keine Scham. Fühlte sich nicht unsicher unter seinen flammenden Augen. Als sie die ihren öffnete, hatte der Sturm sich nicht im geringsten gelegt. Er war noch heftiger geworden und schon bald wütete eben dieser Sturm auch in ihr. Riss sie an einen Abgrund, von dem das Entkommen unmöglich schien. Zeigte ihr mehr von seiner Dunkelheit. So wunderschön und zerstörerisch.

Es war ein Moment der Vertrautheit. Ein Moment der Ehrlichkeit. Und ein Moment der Reinheit. Persephone wünschte sich, jeder würde ihn so sehen können, wie sie es tat. Seine Feinde würden einsehen, dass ein Krieg sinnlos sei. Die Welt würde sich erneutes Blutvergießen sparen und das hatte sie bitter nötig. Die Welt war ein blutiger Ort geworden. War es schon immer gewesen.
Seine Hände führen ihre Rundungen nach. Erkundeten ihre Brüste, eine nach der anderen, bevor er sich ihrem Bauch zuwandte. Die Flammen waren noch nicht erloschen. Sie fragte sich, ob sie es jemals würden.
Seine Hände​ verweilten​ an ihren Hüften, strichen mit dem Daumen über ihre nackte Haut. Sie wollte nicht, dass das Feuer je aufhörte zu brennen. Ein Feuer, das mit der Kraft von eintausend Sonnen brannte.
"Wunderschön", murmelte er, sein Ton merkwürdig beherrscht. Sie verschloss erneut die Augen vor seiner blendenden​ Schönheit und spürte wie er sich distanzierte. Sie riss die Augen auf. Er stand wieder auf seiner Seite des Gitters. Ohne Erklärung, ohne jeden Vorfall. Würde er sie zurücklassen? Nackt, sichtbar für all die Anderen? Ihr war kalt geworden, nachdem die Flammen sich entfernt hatten.
Sein Gesichtsausdruck war bedauernd, dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg zu der majestätischen Treppe, der die Höhle mit dem Palast verbannt. Sie sah das Kleidungsstück auf dem Schemel liegen, auf dem er gesessen hatte.
Und aller letzten, verbliebenen Vorsätze zum Trotz, öffnete sie ihren Mund und formte Worte zu einem honig süßen Sing-Sang. "Ihr geht?"
Überraschung machte sich in ihm breit und er blieb ruckartig stehen. Überlegte, ob er etwas derart schönes wie ihre Stimme je gehört hatte. Etwas hinderte ihn daran sich umzudrehen. Er war eingeschüchtert von der Macht ihrer Stimme. Eingeschüchtert von ihrer Existenz. Und dennoch drehte er sich langsam um. Sie stand noch immer da, wie er sie zurückgelassen hatte. Stolz, stark und göttlich. Ein selbstzufriedenes Lächeln zierte ihr Gesicht. Sie wusste um die Macht ihrer Stimme.
Er griff nach dem Kleid, dann trat er hinter sie. Strich ihre Haare zur Seite um ihr das Gewand anzulegen. Er hatte sie alleine lassen wollen, hatte seine Beherrschung nicht aufgeben wollen. Er war zu wichtig, gerade im bevorstehenden Krieg, da dürfte er nicht die Kontrolle an ein Mädchen verlieren. Sei sie auch noch so schön. Aber ihre Stimme hatte all dies zunichte gemacht. Sie war keine Frau von vielen Worten, dass hatte er verstanden gehabt und deshalb freute es ihn um so mehr, dass ihre ersten Worte ihm gegenüber nicht voller Hass waren. Sie war gut. So gut und pur.
Er schloss die Rückenschnalle und bat ihr eine Hand an. "Vertraut ihr mir?", fragte er, wobei ihm bewusst war, dass das hätten ihre Worte sein sollen.

Das Kleid schmiegte sich an ihre Kurven. Es war nahezu durchsichtig und brachte ihn um den Verstand. Es fühlte sich an, als sei er ganz dicht an ihr dran, und doch würde er aufgehalten werden von einem lächerlich dünnen Stück Stoff. Ein Stück Stoff, der die Grenze markierte. Ein Stück Stoff, der ihr die Möglichkeit gab, ihn abzuweisen. Metaphorisch jedenfalls.

Ihr Haar fiel wieder über beide ihrer Schultern. Wie gern würde er mit diesen Haaren spielen. Doch er war bereits zu weit gegangen, in dem er sie ausgezogen und eine die Hand angeboten hatte.

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