1. Kapitel

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Gelangweilt sitze ich auf meinem dunkelblauen Sessel und blättere durch die Seiten der neuesten Bravo-Zeitschrift. Dünne Strähnen meiner haselnuss braunen Haare kitzeln mich an der Nase. Wieso hab ich dieses Durcheinander auf meinem Kopf eigentlich noch nicht abgeschnitten, dann könnte ich nicht nur aufgrund meines Namens als Junge durchgehen: Warum kapiert keiner dass "Renée" auch ein Mädchenname ist... Denke ich genervt und rolle mit den Augen. Es sind Sommerferien, normalerweise liege ich jetzt an den Stränden von Mallorca, Florida oder wenigsten an der deutschen Ostsee. Aber seit dem letzten Winter...
...Okay, ich hätte jetzt nicht daran denken sollen... bitte keine Panikattacke, bitte bitte bitte, flehe ich mich selbst an, während ich meine Fingernägel so fest in meinen Oberschenkel bohre dass es blutet. Mein Vater, Bruder und Schwester sind letzten Winter bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Meine Mutter ist an Brustkrebs gestorben als ich 10 war. Jetzt bin ich 16 und lebe mit meiner Oma in der Villa nahe bei Hamburg, die uns mein Vater vor zwei Jahren gekauft hatte. Den Tod meiner Mutter vor sechs Jahren hatte ich damals schon nicht richtig verkraftet und bin deshalb "psychisch krank" geworden, wie alle immer sagten. Mein Dad schickte mich zum Psychologen, bei dem ich zuerst kein Wort sprach und nur auf den Boden starrte. Sie veranlassten dass ich eine Frau als Therapeutin bekommen sollte was auch passierte. Von da an wurde es besser. Es brauchte zwei Jahre bis ich mir mein Leben wieder aufgebaut, mich durch die schlimmsten depressiven Episoden gekämpft und alle negativen Gedanken in die hinterste Ecke meines Gehirns gedrängt hatte. Vier Jahre lang war alles weg, verschwunden, ich musste nicht mehr daran denken, keiner sprach mich mehr darauf an. Heute ist alles anders, der Schmerz sitzt tiefer denn je, ich habe niemanden mehr, meine Oma redet nicht mit mir, sie schaut mich an als wäre all das meine Schuld. Von meinen Freunden habe ich mich abgewendet, es waren sowieso keine echten aber... Trotzdem sehne ich mich einfach nach.. Etwas Zuneigung und... Einfach jemanden zum Reden. Wütend schmeiße ich die Bravo-Zeitung an die grüne Wand mit dem Ariana Grande Poster. Wieso lese ich diesen scheiß überhaupt? Am liebsten würde ich einfach alles kaputt machen... Schreien... Aber... Nein, ich muss mich zusammenreißen... Meine Oma ist unten und schaut Fern. Flach atmend presse ich meine Lippen aufeinander und versuche mich zu beruhigen. Komm schon Renée, du musst stark sein!
Mein Blick wandert panisch im Zimmer umher und bleibt an dem alten Hockey-Pokal aus der dritten Klasse hängen. Ich nehme ihn hoch, kneife die Augen zusammen und umklammere ihn mit meiner linken Hand. Langsam drehe ich mich zu meinem Spiegel und hebe den Pokal an, bereit ihn gegen das Glas zu schleudern.
Du Miststück! 
Fauche ich lautlos mein eigenes Spiegelbild an, lasse den Pokal fallen und breche auf dem bunt gepunkteten Teppichboden zusammen.

Fighting GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt