Kapitel 2

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Jane Doe ist die Bezeichnung für eine weibliche unbekannte Person. Ungeklärter Mordfall bedeutet, dass diese Knochensplitter und -stücke zwar analysiert wurden, aber niemand genaueres aus ihnen hat interpretieren können. Unsere Arbeit hier ist zwar wichtig und gut zur Übung, aber ausrichten können Jamie und ich hierbei sicher nichts. Denn wenn die Profis nichts entdecken, was in dem Fall weiterhilft, dann finden wir erst recht nichts.  

Aber da wir unsere Arbeit gut machen wollen, breiten wir zunächst eine dünne durchsichtige Folie auf dem Tisch aus, ehe wir mit Edding ein Raster darauf zeichnen. Anschließend legen wir die Splitter vorsichtig darauf ab und schreiben dazu, was uns auffällt. Viel ist das allerdings nicht, muss ich zugeben. Ich habe meine Lehrbücher vorbildlich neben mir ausgebreitet und vergleiche jedes Knochenstück mit den abgebildeten Beispielen, Jamie braucht diese Gedankenkrücke nicht mehr. Er studiert bereits seit drei Semestern, genau wie all die anderen. Das ist auch ein Grund, warum ich etwas schwer habe, Anschluss zu finden: Ich stoße mitten im Studium dazu und anstatt einfach in den unteren Semestern anzufangen, wie es jeder Andere getan hätte, bin ich einfach in die höheren vorgerückt. Liegt an meinem Intellekt. Das kling jetzt eingebildet, aber es ist ehrlich nicht so gemeint. Ich habe nun mal einen hohen IQ und werde von Unis dementsprechend mit Stipendien überhäuft. Und ich muss die ersten Semester nicht machen, sondern kann einfach direkt im dritten anfangen. Kein Wunder, das die Kommilitonen mich nicht leiden können.  

„Hast du schon irgendetwas Interessantes entdeckt?" 

„Nichts. Gar nichts." Ich schüttele frustriet den Kopf. Ich weiß, ich erwarte ja wirklich nicht, etwas zu finden, das den Professoren, die vor uns hier dran waren, nicht aufgefallen ist, aber es ist einfach deprimierend das genau zu wissen und doch weiter machen zu müssen. Ich lege einen der Knochensplitter - das Teil eines Oberschenkels zu hart auf dem Tisch ab. Er zerbricht nicht - Gott sei Dank! -, aber es ist ein leises knirschendes Geräusch zu hören. Als ich genauer hinsehe, scheint es mir beinahe so, als sei unter dem Knochen, quasi im Inneren, ein anderes Material. Eisen, vielleicht Zinn oder Silber. Merkwürdig.  

„Hey, Jamie, schau dir das mal an." 

„Was denn? Hast du was gefunden?" Er klingt ganz aufgeregt und kommt schnell um den Tisch zu mir herum. Verdammt. Ich hätte ihm das Stück einfach geben sollen, jetzt bemerken bestimmt auch bald die anderen, dass wir etwas Auffälliges bemerkt haben. Als er neben mir steht, lege ich das Stück Knochen vorsichtig in Jamies offene Hand, damit die richtige Stelle oben liegt und sichtbar ist. Ich deute darauf. 

„Schau mal, da. Siehst du dieses Glänzen?" 

„Ich sehe nichts." 

„Na da! Es sieht ein bisschen aus wie poliertes Eisen oder Silber." 

„Nein, ich sehe da gar nichts. Hast du mal eine Lupe?" Ich drehe mich um, um in dem Karton nach dem gewünschten Werkzeug zu suchen, aber noch bevor ich ihn erreiche, stoße ich gegen jemanden. Genauer gesagt, gegen eine sehr männliche Brust, die sich auf einer Höhe mit meiner Nasenspitze befindet. Der neue Dozent - ich weiß seinen Namen noch immer nicht. Komisch. 

„Haben Sie eine Entdeckung gemacht, die nicht den Lehrbüchern entspricht?" 

„Nein - Ja - Ich meine, wir versuchen gerade, das herauszufinden." 

„Was haben Sie denn gefunden?" 

„Dieser Knochen hier sieht von innen anders aus, als normale Knochen es tun sollten. Sehen Sie, hier schimmert und glänzt er so silbrig." 

„Hm. Ich kann nichts entdecken. Wo genau?" 

„Hier, direkt dort!" Ich deute bei dem Knochenstück in Jamies Hand auf die entsprechende Stelle.  

„Es tut mir Leid, aber Sie müssen sich geirrt haben, Miss Mikaelson. Dort ist nichts weiter als normaler, fünfzig Jahre alter Knochen." Ich starre den Neuen und Jamie verblüfft an. Ich bin doch nicht verrückt! Aber ich sage nichts. Vielleicht ist das nur eine Spiegelung des Lichts gewesen - Nein, eigentlich glaube ich das nicht. Ich werde mich später noch einmal damit beschäftigen. Ich merke mir die Nummer des Stückes - B387 - und lege es zurück auf die Rasterfolie.  

„Na gut, dann habe ich mich getäuscht. Muss das Licht gewesen sein." 

Der Dozent nickt zustimmend und geht weiter, schaut anderen Leuten über die Schulter. 

Wir arbeiten schweigend weiter, untersuchen neue Stücke, protokollieren, was wir sehen, wenden uns den nächsten Kartons zu. Nach einer Weile hat jede Gruppe ihre zugeteilten Kartons durchgearbeitet und wir rotieren, sodass jeder an einem neuen Tisch mit neuen menschlichen Überresten arbeitet.  

Drei lange Stunden verbringen wir in diesem Kellergewölbe. So langsam vermisse ich das Tageslicht. Ich arbeite schneller, um eher mit den Formularen fertig zu werden. 

Endlich, endlich schlägt die alte Glocke der Uni, die das Ende der Unterrichtseinheit anzeigt. Beinahe auf die Sekunde des ersten Schlages lässt der Großteil meiner Kommilitonen die Stifte und Zettel fallen, die Übrigen, welche Knochen in den Händen halten, legen diese etwas vorsichtiger ab. In Windeseile sind alle Utensilien wieder sicher verpackt und fertig für den Transport ins Archiv. Wieder hält der Neue mich zurück, während die Anderen die Kisten schleppen müssen.  

„Was wollen Sie denn jetzt schon wieder?" 

„Was haben Sie gesehen, in dem Knochen vorhin, meine ich? Was genau haben Sie gesehen?" 

„Sie glauben mir also doch, dass da etwas war? Warum haben Sie mich vorhin in dem Glauben gelassen, dass ich mir das einbilde?" 

„Weil nicht jeder die Krankheit kennt, durch die dieser Mensch offenbar gestorben ist, und weil das auch so bleiben soll." 

„Aber Sie wissen schon, dass Sie wirres Zeug reden und ich kein Wort von dem verstehe, das Sie von sich geben?" 

Er lacht. Er lacht! Für wen hält der sich eigentlich?  

„Ja, das weiß ich. Ich bitte Sie nur darum, die Nummer, die Sie sich vorhin aufgeschrieben haben, zu vergessen und einfach nicht weiter nachzuforschen." 

„Das kann ich nicht." 

„Dann muss ich Sie persönlich davon abhalten." 

„Warum? Was haben Sie davon?" 

„Ich leide unter derselben Krankheit wie der Mann, dessen Knochen Sie untersucht haben. Ich möchte nicht, dass das an die Öffentlichkeit gelangt."  

Jetzt bin ich sprachlos. Krankheit? Inoffiziell?  

„Was haben Sie denn mit dem Mann zu schaffen gehabt, dass Sie genau wissen, dass Sie dieselbe Krankheit haben?" 

„Das werde ich Ihnen ein andermal erzählen." In dem Moment kommen die übrigen Studenten wieder in den Raum, Cynthia sieht mich überheblich an. Sie denkt wohl, ich habe gerade meine Strafpredigt und -arbeit erhalten. Das sagt einiges über meinen Gesichtsausdruck aus. Auch Jamie ist das aufgefallen. 

„Hat er dich jetzt schon zusammengefaltet?" 

„Nein, aber ich bin sicher, das kommt noch." 

Wir verlassen den Keller und sehen zum ersten Mal seit Stunden wieder das Sonnenlicht - obwohl von Sonne nicht die Rede sein kann. Es ist so neblig heute morgen, dass man kaum drei Meter weit sehen kann.Da meine nächste Vorlesung erst in ein paar Stunden am frühen Nachmittag stattfindet, fahre ich schnurstracks nach Hause und stelle mich unter die Dusche. Endlich fließt all der Kellergeruch und Staub von meiner Haut und ich fühle mich wieder sauber. Ich hoffe dieses Gefühl wird nicht zu abschreckend für mich, denn ich mag meine Arbeit, zumindest mein Studienfach eigentlich recht gern.  

Bevor ich mich für ein kurzes Nickerchen noch einmal hinlege, fällt mir auf, dass ich den Namen des Neuen immer noch nicht weiß.

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