EINS

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Sonntag.

Sonntag Morgen sieben Uhr, wie mir mein Wecker verriet. Eigentlich viel zu früh - vor allem für einen Sonntag - doch wider meiner Langschläfer-Instinkte richtete ich mich auf. Heute geht es also los, dachte ich, als ich mich auf den Weg ins Bad machte.

Im Spiegel über dem Waschbecken sah mich ein sechzehnjähriges Mädchen mit dicken Augenringen an, das sich eingestehen musste, dass es eine blöde Idee gewesen war, in der Nacht vor ihrer Abreise eine Abschiedsparty zu feiern. Wenn ich so darüber nachdachte hatte ich vielleicht drei, höchstens vier Stunden Schlaf bekommen. Selbst für Cassie wäre das viel zu kurz gewesen und sie stand am Wochenende regelmäßig um sieben Uhr auf.

Während ich mich selbst bemitleidete, stieg ich unter die Dusche und machte mich für den Tag fertig. Die Entscheidung für ein Outfit hatte ich schon gestern getroffen, als es das einzige war, das ich nicht einpackte: eine schwarze Hotpants mit ausgefransten Beinen, ein schlichtes weißes Top und ein rot kariertes Flanellhemd, das ich nicht zu knöpfte.

Nachdem ich die Treppe runter gegangen war empfing mich mein Dad mit einer Tasse Kaffee in der Küche.

„Danke. Das ist genau das, was ich gebraucht hab.", sagte ich während ich ihn entgegen nahm.

„Ja, das dachte ich mir schon.", kicherte er und zwinkerte mir zu.

Ich nahm einen großen Schluck und setzte mich an den Esstisch, wo ich begann mir eine Scheibe Brot mit Marmelade zu beschmieren. Auch hier war die Wahl schnell getroffen, da nichts außer ein paar Scheiben Brot und einem Glas Himbeermarmelade auf dem Tisch stand. Als mein Vater auch sich eine Tasse Kaffee geholt hatte, setzte er sich mir gegenüber.

„Und? Wie war's denn Gestern?", erkundigte er sich.

„Ja, war ganz nett. Ich werde alle auf jeden Fall vermissen.", erwiderte ich. Die Tatsache, dass ich ins Internat musste, hatte ich den Sommer über verarbeitet. Das wusste mein Vater auch, doch nichtsdestotrotz vergewisserte er sich noch einmal:

„Du weißt, dass das eine riesen Chance für mich ist, oder?"

„Ja natürlich und ich gönn es dir auch. Das weißt du doch."

„Ja... aber du denkst jetzt auch nicht, dass ich meine Karriere dir vorziehe und dich einfach ins Internat abschiebe, oder?"

„Bis gerade eben zumindest noch nicht...", ärgerte ich ihn und biss grinsend in mein Brot.

„Man Natalie! Ich versuche hier ein guter Vater zu sein und du nimmst mich einfach nicht ernst!", sagte er voller gespielter Entrüstung. Aber das hielt er nur so etwa eine halbe Sekunde lang durch und musste dann auch lachen.

Während wir so dasaßen, sah ich mich in der Küche um. Sie war immer das Herz des Hauses gewesen. Hier hatten wir gemeinsam am meisten Zeit verbracht, weshalb sie auch super gemütlich eingerichtet gewesen war. Der Esstisch hatte unter dem Fenster gestanden, an dem freundliche gelbe Gardinen gehangen hatten, die perfekt zu der Tischdecke gepasst hatten. An den übrigen drei Seiten des kleinen Tisches hatte jeweils ein Holzstuhl mit einer aus Korb geflochtenen Sitzfläche gestanden, die beim Hinsetzten leise geknackst hatte. Links von dem Fenster, neben der Tür, hatte der Kühlschrank gestanden, sodass Dad sich auf seinem Platz nur hatte umdrehen müssen, um sich aus ihm bedienen zu können. Ich hatte ihm immer gegenüber gesessen, mit der Küchentheke und dem Herd hinter mir. Und gegenüber von der Wand mit dem Fenster war ein breiter Durchgang ins Wohnzimmer. An der Tür hatte ein gelber Bambusvorhang gehangen, sodass man das Wohnzimmer nicht hatte sehen können.

Wenn ich mich jetzt so umsah wurde ich ein wenig wehmütig, da mit Ausnahme des Esstisches und zweier Stühle nichts übrig geblieben war. So sah mittlerweile das ganze Haus aus – nur noch die wichtigsten Möbel waren da und der Flur voller Umzugskartons. Doch damit hatte ich eigentlich nichts zu tun, weil ich nur meine Sachen zusammengepackt hatte und ins Internat ging, während Dad den Rest mit in seine neue Wohnung nehmen würde.

„Ich denke wir sollten langsam los, sonst verpasst du noch deinen Zug.", unterbrach er meine Gedanken.

Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass er Recht hatte.

„Ja, du hast recht. Ich geh kurz mein Zeug holen." und mit diesen Worten verschwand ich die Treppe hinauf.


Es war irgendwie merkwürdig. Ihn da so am Bahnsteig stehen zu sehen und zu wissen, dass das bis auf weiteres das letzte Mal sein würde. Ich hatte mich im Zug auf die rechte Seite ans Fenster gesetzt und neben mir der Platz war frei. Von da aus konnte ich gut sehen wie Dad anfing wild mit den Armen zu wedeln als sich der Zug in Bewegung setzte. Ich winkte ebenfalls und dann war er auch schon weg. Und als hinter dem Fenster die Landschaft vorbeizog, suchte ich in meiner Handtasche nach meinen Kopfhörern. Nachdem ich sie gefunden und in meine Ohren gesteckt hatte, wurde mir klar, dass das jetzt tatsächlich der Anfang eines neuen Abschnitts war. Und ich musste mir selbst eingestehen, dass ich diesem recht euphorisch entgegensah. Es war meine Chance mich neu zu definieren. Dort kannte niemand weder mich noch meine Vorgeschichte. Klar würde ich meine Freunde vermissen, aber das waren vielleicht eine Handvoll Leute. Und diesen Preis zahlte ich gerne, wenn ich dafür Aiden nie wieder sehen musste. Und während ich so über all das nachdachte, spürte ich den Schlafentzug immer deutlicher, bis ich schließlich weg dämmerte.


Als ich aufwachte, erkannte ich draußen nichts mehr. Wir mussten Bristol schon vor einer ganzen Weile verlassen haben. Dafür sprach auch, dass sich der Wagon stark gefüllt hatte. Als ich eingestiegen war hatte man die Leute an einer Hand abzählen können und nun waren über die Hälfte der Sitzplätze belegt. Und während meine Augen über die Reihen glitten und ich immer wacher wurde, bemerkte ich erst jetzt den Blick auf mir.

Die hintere Hälfte der Sitze des Wagons war in Fahrtrichtung ausgerichtet. Die vordere Hälfte ihnen entgegengesetzt. Dadurch bildete sich in der Mitte des Wagons auf beiden Seiten jeweils eine vierer Gruppe mit einem Tisch in der Mitte. Ich saß in der zweier Reihe direkt hinter dem Vierer, am Fenster. Dieser Platz erlaubte es mir zwischen meinen beiden Vordersitzen hindurch auf den Platz entgegen der Fahrtrichtung, am Gang, zusehen. Und dort saß er.

Zuerst bemerkte ich seine tief dunkelblauen Augen. Er hatte dunkelbraune Haare, die zuerst den Anschein erweckten als hätte er sie nicht gestylt, doch ich wusste dass sie nicht durch Zufall so lagen, wie sie lagen. Mein Blick glitt herunter auf seine sanft geschwungenen Lippen, die sich in diesem Moment zu einem kleinen Lächeln formten. Als ich dann zurück zu seinen Augen sah, traf sich unser Blick. Oh man, er hat bemerkt, dass ich ihn angestarrt hab! Das war mir so peinlich, dass ich schnell weg sah. Ich schaute aus dem Fenster und beobachtete die Bäume, wie sie einer nach dem andern an mir vorbeizogen. Das tat ich so etwa zwei Minuten lang bis mir ein Nagel einriss. Verdammt! Und erst da viel mir auf, dass ich schon wieder an meinen Nägeln gekaut hatte. Eine wirklich lästige Angewohnheit. Ich musterte den Nagel meines Zeigefingers und war dankbar als ich sah, dass er relativ weit oben eingerissen war, sodass ich ihn durch ein wenig feilen noch retten konnte. Dann streckte ich die Hand aus und bemerkte, dass auch die Nägel meines Mittelfingers und Daumens ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Heute Abend werde ich mir auf jeden Fall die Nägel machen, beschloss ich.

Und während ich so meine Nägel musterte viel mir auf, was ich zuvor übersehen hatte. Er hat mich zuerst angestarrt! Deshalb hab ich doch überhaupt erst zu ihm rüber geguckt. Ich sah zu ihm rüber und fragte mich, wie er mich wohl gesehen hatte. Ich hatte meinen Kopf gegen die Scheibe gelehnt gehabt und geschlafen. Oh Gott, hoffentlich hab ich nicht gesabbert oder so was! Dann war ich aufgewacht und hatte mich im Zug umgeschaut bis ich ihn angeguckt hatte. Mir viel jetzt erst auf, dass ich ebenfalls gelächelt hatte, als sich unser Blick getroffen hatte. Und als hätte ich es herauf beschworen, sah er in diesem Augenblick wieder zu mir herüber. Er wirkte ein wenig überrascht. Mehr konnte ich nicht erkennen, da ich wieder schnell weg sah. Ich zog mein Handy raus, ohne zu wissen was ich damit eigentlich machen wollte. Vielleicht mal auf die Uhr schauen – ich war jetzt wirklich schon seit knapp fünf Stunden unterwegs.

Okay, ich würde sagen ich hab meinen fehlenden Schlaf wohl nachgeholt... Also dauerte die Fahrt jetzt nur noch ungefähr zwei Stunden, wie ich ausrechnete, nachdem ich einige Momente auf die Uhrzeit gestarrt hatte. Und als ich mein Handy wieder in meine Tasche gleiten ließ, spürte ich ihn. Aha! Ich sah hoch und erwischte ihn, wie er mich ansah. Und nun war er an der Reihe schnell weg zuschauen. Das beobachtete ich mit Genugtuung, aber fragte mich, wieso er immer zu mir herüber sah.

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