Ein Kuss voller Selbsthass

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Ohne ein weiteres Wort bin ich gegangen.

Irgendwie habe ich es geschafft, den Weg hierher, nach Hause, zu finden. Wäre ich erst zurück zu der Lichtung, auf der ich ihn gefunden habe und dann von da aus nach Hause gegangen, wäre ich wohl um einiges schneller gewesen, weil ich diesen Weg bereits gekannt hätte.

Aber ich habe nicht das Bedürfnis verspürt, in die Brennnesselplantage zurückzukehren.
Also bin ich irgendwie durch den Wald gelaufen, nur mit einer ungefähren Richtung im Kopf, bis ich wieder auf mir bekannte Wege gestoßen bin.

Jetzt liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke.
Mein Körper brennt noch immer wie die Hölle, aber das stört mich gerade relativ wenig.
Meine Gedanken schweifen immer wieder zu ihm ab.
Nayjuan.

Gleichzeitig Mensch und Wolf - hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich es nicht glauben.

Ich habe ihn - als Mensch - nur zweimal gesehen, und doch regen sich bei seinem Anblick Gefühle in mir, die ich am liebsten auf den Mond schießen würde.

Ganz besonders, da er mich so gnadenlos getäuscht hat.
Fünf Jahre lang.

Ich habe Nayjuan - als Wolf - alles erzählt. All meine Geheimnisse, er weiß sogar mehr von mir als Mila.
Ich habe ihm vertraut und habe darauf vertraut, dass er es niemandem weitererzählen kann. Dass er für mich da ist.

Ich habe ihm von dem Jungen erzählt, den ich vor sieben Jahren getroffen habe.
Von den Träumen, in denen ich ihn sehen, treffen kann.
Vor einiger Zeit habe ich mich sogar getraut ihm zu erzählen, wie sehr ich diese Träume herbeisehne.
Wie enttäuscht ich darüber bin, dass sie mit der Zeit weniger wurden.
Denn trotz seiner kalten Art, seinem abweisendem Verhalten mir gegenüber hatte ich diesen Jungen gern.

Und auch wenn ich mir wünsche, dass es nicht so wäre, so weiß ich doch, dass er mir auch jetzt nicht egal ist.
Und es wohl nie sein wird, auch wenn er mich so verraten hat.

Ich wälze mich im Bett herum und setze mich auf.
Ich berge mein Gesicht in den Händen, doch es wollen keine Tränen kommen.
Gerne würde ich meine Wut, meine Enttäuschung irgendwie herauslassen, doch ich weiß nicht wie.
Niedergeschlagen erhebe ich mich von meinem Bett und schleiche die Treppe nach unten, in der Hoffnung, dass mich die Gegenwart meiner Eltern ein wenig ablenken würde.
Doch unten angekommen finde ich lediglich einen Zettel vor, auf dem steht, dass sie bei Freunden wären.

Ich überlege, ob ich bei Mila vorbeischauen soll, doch sie würde sofort merken, dass mit mir etwas nicht stimmt.
Und ich kann ihr schlecht erzählen, dass sich der Wolf, mit dem ich mich täglich treffe, plötzlich in einen jungen Mann verwandelt hat.

Von dem Jungen vor sieben Jahren habe ich ihr nicht erzählt, auch wenn ich nicht genau weiß, warum eigentlich nicht.
Irgendwie erscheint mir das eine Treffen mit ihm so wertvoll, dass ich es nicht preisgeben möchte, nicht einmal vor Mila.

Anstelle zu Mila zu gehen setze ich mich also vor den Fernseher und zappe durch die verschiedenen Kanäle, doch keine Sendung lenkt mich genug von Nayjuan ab.

Schließlich lässt mich die Türklingel aufschrecken.
Meine Eltern sind zurück.

Ich hieve mich auf, drücke auf den Türöffner und schalte den Fernseher aus, bevor ich mich wieder aufs Sofa sinken lasse.

"Jara?"

Ich zucke zusammen und springe mit einem leisen Schrei auf.

Nayjuan hebt die Hände und sieht mich entschuldigend an.
"Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken."

"Von wegen!"
"Was macht er hier?"
"Er passt sowas von gar nicht hier rein."
"Er ist doch verletzt, wieso läuft er dann schon wieder durch die Gegend?"
"Was will er von mir?"
"Deshalb sollte man vor dem Öffnen nachschauen, wer vor der Tür steht!"

Nay - Der silberne WolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt