𝟏 | 𝐘𝐄𝐊

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Jeder deiner Bewegungen gibt mir Sehnsucht.

ALIA

„Wo ist mein Mann?" Ich stürme das Krankenhaus.

Ich weiß nicht, wohin mit mir, weil alles so irreal wirkt. Als würde die Zeit mir einen Streich spielen und mir einreden, dass die Rückspultaste noch betätigt werden kann. Als würde ich alles rückgängig machen können, aber dafür müsste ich nur verstehen, was passiert ist.

Ich renne zur Rezeption. Die Frau hinter der Theke schaut mich irritiert an. Ihren Feierabend hat sie sich bestimmt anders vorgestellt, aber mein Abend hat von einer Sekunde auf die andere einen miserablen Schicksalsschlag erfahren.Mein Kopf will nicht realisieren. Mein Herz will nicht stehen bleiben und meine Augen wollen diese Frau nicht mit roten Augen anschauen. Ich kann ihr den skeptischen Blick nicht übelnehmen. Schließlich mache ich während ihrer stillen Arbeitsschicht Krach. Wie sollen einem in so einer Situation auch keine Fragezeichen im Kopf schwirren? Sie steht auf und schenkt mir ihre ganze Aufmerksamkeit. „Ganz ruhig, wer ist denn ihr Mann?", fragt sie überfordert.

Wie hätte ich an ihrer Stelle reagiert? Hätte ich ebenso Worte finden können, die Ermunterung hergeben? In dieser Hektik kann ich es mir nicht vorstellen. Meine Angst schubst die Gedanken, die sich beschämt zur Wand drehen, in die hintersten Ecken. Und schon passiert es. Tränen steigen auf und füllen meine Augen wie ein Wassergefäß. Ich verliere die Kontrolle über meine Atmung. Vergeblich ringe ich nach Luft, die mich am Leben hält. Ich stütze meine Hände auf die Theke und wimmere. Wieso kann das alles nicht einfach ein blöder Witz sein? Ich brauche Halt. Es fühlt sich an, als würde ein Hinterhältiger meinen Hals mit einem Seil zuschnüren und keine Scheu zeigen.

Nabil.

„Schauen Sie mich an, Schätzchen!" Und schon werden meine Hände genommen. Mit verschwommener Sicht sehe ich zu der Rezeptionistin. „Holen Sie mit mir tief Luft. Auf Drei, ja?" Ihre Worte suchen Bestätigung, aber ich habe meine Zunge verschluckt. Ich bin nicht fähig zu reden. Ich nicke nur. Ich höre sie tief Luft holen und mache es ihr gleich. Meine Hände zittern in ihren Händen, obwohl sie sie stark festhält. „Und jetzt ausatmen." Die gemeinsame Atemübung und ihre Geste, meinen Handrücken zu streicheln, geben mir die Kraft, das Seil von meinem Hals zu reißen und von diesem Hinterhältigen loszukommen. „Prima machen Sie das. Haben wir uns wieder beruhigt?" Ich blinzle die Tränen weg. Mein Nacken ist steif.

Nabil.

„I-ich will ... i-ich ..." Ich räuspere mich. „Kommen Sie mit mir mit." Ohne dass sie meine Hände loslässt, zieht sie mich mit. Wäre ich bei Verstand, hätte ich meine Hände zurückgezogen, da der Kontakt mit Fremden mir Unsicherheit verschafft. Sie läuft mit mir um die Theke und bringt mich zu den Wartestühlen am Eingang. „Setzen Sie sich."

Ich blende meine Umgebung aus und ignoriere die dutzend Gesichter, die alles beobachten. Wie praktisch, dass neben den Stühlen ein Wasserspender ist und die Rezeptionistin mir freundlicherweise einen Becher Wasser reicht. Mein Zittern drängt sich vor und mühevoll versuche ich, den Becher zu halten. Nur ein paar flüchtige Schlucke gelangen in meine Speiseröhre. Mir ist so kalt. Ich werde wieder panisch. Ich muss doch unbedingt zu ihm. Die nette Frau versucht mich zu beruhigen, aber es funktioniert nicht. Wie hätte sie reagiert, wenn sie erfahren hätte, dass ihr Ehemann ein schwerer Autounfall erlitten hat und sie unwissend über sein Gemütsstand ist? Nabil.

„Wir fangen nochmal von vorne an. Wie lautet der Namen Ihres Mannes?" Ich muss mich zusammenreißen. Ich trinke mehr vom Wasser und sehe kurz auf. „N-Nabil Abdel." Ich erschrecke mich vor meiner eigenen Stimme. Ich sehe wieder unscharf und diesmal reicht mir die Kraft nicht aus, um den Blick zu schärfen. „Und Ihr Name ist?" Ihre Hand liegt auf meiner Schulter.„Alia ... Alia Aziz" sage ich nasal. Ein schwerer Druck macht sich auf meiner Brust bemerkbar. Bitte nicht jetzt. „Hallo, Frau Aziz, mein Name ist Kiana Werner. Ich werde sofort nachschauen, wo Ihr Mann bleibt. Wurde er eingewiesen?" Ich bejahe ihre Frage und lege eine Hand auf meine Brust. Sie zieht sich zusammen. Ich bin wieder belastbar. Dieser Abend hätte anders aussehen können.

𝐒𝐞𝐡𝐧𝐬𝐮𝐜𝐡𝐭 | LESEPROBE Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt