Der Maronenbaum

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Der Maronenbaum:

Eines Tages trafen sie sich unter einem Baum am Rande des Dorfes. Es hörte sich an, wie ein Anfang einer Liebesgeschichte. Es fühlte sich an diesem Tag auch genauso an. Es war wie ein Film und sie wusste intuitiv, dass sie zusammen gehörten. Sie erinnerte sich daran: an den Ort, den Platz, sie, die Nacht, die Geräusche, daran, dass sie, als sie dort war, schon wusste, dass etwas besonders laufen würde. Sie wusste damals nicht warum, aber sie merkte es. Es war in der Atmosphäre, diese romantische dunkelrote Atmosphäre.

Eines Tages trafen sie sich unter einem Baum am Rand des Dorfes. Es hörte sich an wie ein Anfang einer Kriminalgeschichte. Es fühlte sich an diesem Tag auch genauso an. Düster, mysteriös und irgendwie schmerzhaft. Es war wie, wenn man sich einen Film ansah und wusste intuitiv, dass etwas falsch war. Sie erinnerte sich daran: an den Ort, den Platz, sie, die Nacht, die Geräusche, daran, dass sie, als sie dort war, schon wusste, dass etwas anders laufen würde. Sie wusste damals nicht warum, aber sie merkte es. Es war in der Atmosphäre, diese schmerzhafte blutroten Atmosphäre.

„Möchtest du es dir ansehen?", fragte die Person, die außer ihr in dem Raum saß. Nicht dass sie e s nicht schon die ganze Zeit hypnotisiert ansah.

Es war schon wieder dieses Dunkelrot, was herrschte. Es war da, doch man sah es nicht direkt. Umgebungsfarbe, so nannte man es im Kunstunterricht doch. Jetzt war sie hier, in dem Raum, der schlichte Möbel, schlichte Dekoration besaß und einer schlichten Therapeutin. Sie war hier mit diesem O b j e k t. Eigentlich war es mehr als ein simples Objekt, es war ein Kunstwerk. Ein sehr bedeutungsvolles Kunstwerk. Nicht nur ein Bild, nein, eine ganze Geschichte.

Zuerst sah man sah sofort den Baum. Es war dieser Baum, unter dem sie sich so oft getroffen hatten. Sie hatten sich eben nicht nur einmal unter diesem verfluchten Baum getroffen.

Es war ein Maronenbaum. Eigentlich mochte sie diesen Baum, er hatte ihr hin und wieder den Herbst versüßt, damals als sie noch klein und naiv war. Sie war immer mit ihrem Vater an genau diesem Baum mit ihrem kleinen rosa Fahrrad vorbeigefahren und hatte fleißig alle Maronen eingesammelt. Es waren glückliche Momente, die sie damals mit diesem Baum in Verbindung brachte. Diese Erinnerungen fühlten sich an, als wären sie nur ein Traum. Als wäre sie eigentlich an einem anderen Baum vorbeigefahren. Früher hätte sie niemals in ihrem Leben gewollt, dass dieser Baum gefällt wurde, jetzt würde sie diesen Baum mit eigener Hand mit Benzin begießen, abfackeln und zum Schluss noch die Asche mit einer Axt zertrümmern.

Das war gelogen.

Das Gemälde porträtierte diese naive Kindheit. Es war Herbst. Und ein kleines rosa Fahrrad lehnte sich alleine, jedoch lässig an den Baum an. Er warf einen ziemlich großen bedeutungsvollen Schatten.

„Was empfindest du, wenn du das Gemälde siehst?", fragte die Therapeutin, die sich vorhin vorgestellt hatte.

Sie sagte nichts dazu.

Warum sollte sie auch? Es würde niemanden etwas bringen. Was passiert war, war passiert. Der Fall war schon geklärt, eigentlich waren alle zufrieden, mit Informationen gestopft. Jetzt gab es nämlich keine Geheimnisse mehr. Was diese Situation bezweckte war sie zu entschlüsseln und sie aus ihrer Starre zu holen. Doch das war unnötig. Und doch geisterte die Frage in ihrem Kopf herum. Diese Frage traf auf mehrere Fragen: Es war wie eine Kollision. So heftig, dass es ihr Kopfschmerzen bereiteten. Was empfinden sie, wenn sie das Gemälde sehen? Waren Therapeuten immer so direkt? Fing man so eine Stunde nicht anders an? Vorstellungen? Was dachte die Therapeutin über das Bild? Fand sie es gut? Verstand sie es? Hatte sie schon mal dieselbe Situation? Eine ähnliche?

Was empfand sie, wenn sie das Gemälde ansah?

Ihr Blick fokussierte sich wieder auf das Bild. Der dargestellte Himmel war dunkel. Oder fast. Der Himmel brach, blutete, und strahlte. Es war Abend, Nacht, zu spät, als dass das Fahrrad da noch stehen sollte. Der Himmel gab die Zeit an. Die Zeit des Tages, des Jahres, meines Lebens. Wann preschte man mit seinem eigentlich zu kleinen Fahrrad Abends noch herum und fuhr zu einem Baum, außerhalb des Dorfes? Genau. Dann, wenn man romantisch wird. Dann, wenn man sich verändert. Wenn man zum Rebell wird. Ein Rebell gegen sich selber. Zum Rebellen, zum Helden, zum Poeten. Plötzlich ist man nicht mehr mit Papa am Baum, sondern mit auf einer äußerlich interessanteren Ebene: einem anderen jugendlichen Jungen.

Es tut weh. Es ist grausam. Es ist wie, wenn eine grausame Macht in mir ist und ausbrechen will. Sie ist enorm. Diese Macht, meine ich. Sie drückt ununterbrochen auf die Mauern, sodass ich die ganze Zeit Luft anhalten muss, um mich darauf zu konzentrieren, dass sie nicht ausbricht.

„Ich erstickte", flüsterte sie.

Eigentlich war es auch keine Vereinbarung, dass sie sich dort treffen würden. Es war Zufall. Ein wunderbarer Zufall für sie. Es war eines Abends, sie war wieder an ihren Lieblingsort geradelt, da sie dort die beste Aussicht auf das Dorf hatte. Es war nämlich die Stelle, die etwas erhöht war. Ziemlich gefährlich für ein dreizehn jähriges Mädchen. Die Aussicht war jedenfalls grandios. Das fand er anscheinend auch, denn er saß da, alleine, rauchend. Es war nicht verbreitet, dass man in diesem Alter schon rauchte. Jedenfalls tat er das damals. Sie kannten sich schon beide. So wie man es auf dem Dorf eben tat. Man würde auf einen plastischen „Nachbarschaft-Gartenfest" eingeladen, an dem eigentlich die ganze Dorfgemeinschaft teilnahm und früher oder später sah man sich in der „Kinder-Abteilung", wie sie es gerne betitelte. Oder man traf sich auf dem Spielplatz. Dem einzigen Spielplatz, den es hier gab. Man hatte halt keine andere Möglichkeit und trotzdem fühlte man sich in dem Dorf frei. Normal war es auch, dass viele Menschen dort waren: unter dem Baum, neben der ländlichen Straße, die aus dem Dorf zum Wald führte. Man hatte sogar eine Gartenschaukel aufgestellt. Auf der saß er, sah sie an und rauchte. Die Situation fühlte sich gefährlich an, abenteuerlich, der Sonnenuntergang gab dem ganzen noch eine ganz düstere Stimmung. Sie fühlte sich immer etwas unsicher und gefährdet, doch damals war es perfekt.

„Was bedeutet diese Blumen?", fragte die Therapeutin, dessen Existenz sie kurzzeitig vergessen hatte.

Wie oft sie dort zusammen gesessen hatten. Wie ihr Herz nach jedem Mal schneller wurde, ihr Lächeln breiter, ihre Augenfalten intensiver, ihre Augen strahlender. Am Anfang war es für sie interessant, ihn zu treffen: Sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Sie dachte nicht, dass er ein Typ wäre, der alleine auf dieser Gartenschaukel sitzen würde und sich den Sonnenuntergang angucken würde. Es machte ihn hochinteressant und sympathisch und das reichte, um ihre geballte Neugierde zu wecken. Sie erfuhr immer mehr über ihn, je öfter sie sich unterhielten. Was er mochte, dass er gerne Fahrrad fuhr, dass seine Lieblingsfarbe Rot war, in welche Schule er ging, welchen Bus er morgens fuhr, dass er der älteste von drei Brüdern und einer kleinen Schwester war. Dass er gerne gebackene Maronen aß und gerne dieses auch als Kompott verarbeitete. Je mehr sie über ihn erfuhr, desto interessanter und sympathischer wurde er. Ihre Gespräche wurden immer länger und länger und das Thema immer interessanter und interessanter. Er gab zu, dass er Kunst über alles liebte, zeichnete, malte und Geschichten schrieb. Er zeigte ihr die Geschichten, die er während des Unterrichts schrieb, manchmal auch seine Aufsätze, vor allem in Philosophie, zeigte ihr die Bilder, als kleine Zeichnungen oder große Gemälde. Sie bewunderte alles, was er ihr zeigte. Sie wurden älter, langsam, aber überraschend. Er machte sein Abi und fing bei einem traditionellen Atelier an. „Ich will nicht sagen, dass ich in einer anderen Welt lebe, es ist eher so, dass ich die Welt anders wahrnehme", hatte er einmal zu ihr gesagt, als sie zusammen auf der Gartenschaukel Maronen aßen. „Um Verbindungen herzustellen, streben alle danach, eine einheitliche Sichtweise zu erreichen. Jedoch ohne zu bemerken, dass sie es auch anders könnten. Sie könnten zusammen ein schönes Bild malen, als immer voneinander abzuzeichnen." Seine Gedanken waren einer der Gründe, warum sie ihn liebte. Es war vielleicht nicht sehr komplex, aber es beeindruckte ihr jugendliches selbst sehr. Auch seine andere Sichtweise, seine Ausstrahlung, seine Inspiration, seine Kreativität, sein Ausdruck. Manchmal verstand sie nicht wie sie ihn verstand, konnte dieses Gefühl nicht in Worte packen, in keinster Weise ausdrücken, aber sie fühlte es. Und es war das wichtigste, es war schön, einfach umwerfend, interessant, und irgendwie auch unheimlich.

Es war sein Bild.

Ihre Augen nahmen jetzt wieder konzentriert die Details des Bildes auf. Der Baum, das Laub drumherum, die Maronen, die Nacht, der Sonnenuntergang, das rosa Fahrrad, die Gartenschaukel, die Landstraße, die B l u m e n. Es gibt diese Blumen in der Wirklichkeit nicht. Als sie sich mit ihm unter dem Baum traf, sahen sie diese Blume nicht. Doch sie war da, unwirklich, aber dennoch echt. Sie lagen auf der Schaukel, ihr Stiel hatte sich um die Stangen gewickelt, umeinander: Es ergab ein schönes Bild. Beide hatten noch fast alle ihrer Blütenblätter. Nur drei fehlten. Sie lebten dort, wo sie sich immer mit ihm getroffen hatten. Eine zarte rote Aura umgab sie. Es ist offensichtlich, dass diese Farbe hier eine dominante Rolle spielte.

„Warum rauchst du?", hatte sie ihn einmal gefragt. „Weil es besser zu dem Bild passt, dass ich gerne vermitteln will. Aber ich höre auf. Ich möchte und werde lange Leben. Am besten mit dir." Dann hatten sie sich geküsste. Zum ersten Mal.

„Es stimmt nicht", meinte sie zu der Therapeutin und sah sie zum ersten Mal an. „Die Blumen stimmen nicht. Er hat es falsch gemalt. Die eine Blüte ist falsch." Ihr gegenüber hob verwundert ihre Augenbrauen. „Warum? Was ist an ihnen falsch?"

„Kennen sie Momo von Michael Ende?", fragte sie ihre Therapeutin. Diese verstummte sofort und sah sie mitleidig an. Momo: eines von seinen absoluten Lieblingsbüchern. Die Stundenblumen wachsen in den Herzen der Menschen und stehen für deren Lebenszeit. „Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen." Die grauen Herren stehlen die Blumen und drehen aus den getrockneten Blütenblättern ihre Zigarren, mit denen sie sich am Leben erhalten. Die grauen Herren hatten Blüten gestohlen, von diesem Bild, nur man sah es nicht. Und dann hatten sie damit ihre Zigarren gewickelt.

Langsam verstand sie, warum ihre Therapeutin so einen verfluchten mitleidigen Blick hatte. Sie spürte es. Die nassen, kalten Tropfen, die ihre Wangen benetzten. Erst war es ein kleiner Nieselregen und dann ein heftiges Gewitter. Schluchzend vergrub sie ihren Kopf zwischen ihre Knie.

Die Macht war ausgebrochen und verbreitete sich jetzt an ihren ganzen Körper aus. Unter dem Maronenbaum war es passiert. Sie hatten sich verabredet. Er war zu früh. Der Himmel war rot, blutrot, wie sie es sich in Erinnerung hatte. In dem Dorf war gerade eine Feier. Es wurde gelacht, getrunken, geredet, geraucht. Sehr, sehr viele Menschen waren da. Doch als sie die Hauptstraße außerhalb des Dorfes lang lief, um zu der Gartenschaukel zu kommen, hörte sie langsam eine immer lauter werdende Diskussion. Irgendwann wurde es zu einem schreienden Streitgespräch. Mit einer schlechten Vorahnung fing sie an schneller zu laufen und als sie um die Ecke bog, sah sie es. Vier betrunkene Typen um ihn, die auf ihn einschlugen und herumschubsten. Sie fing an zu rufen, sie sollen aufhören. Doch natürlich hörte es nicht auf, es war eine Wand, die die Typen vor ihre Bitten schütze, sie fing an zu schreien, doch die Wand war dicht, ließ nichts durch. Sie sah, wie sie ihn nahmen und gegen den Maronenbaum schmetterten, mit einer solchen Wucht, dass sie anfing zu weinen, als sie zu dem Baum am Rande des Dorfes rannte. Die grauen Herren hatten in dem Moment die Blume in seinem Herzen gestohlen. Sie hatten ihn angerempelt, weil er Zeit zum Leben hatte, er nicht mehr rauchte, er die Welt anders sah, besser, bunter, als sie mit ihren grauen Umhängen und weil sie es konnten. Weil sie niemand aufhielt, weil sie dort frei waren.

„Ich war so hilflos. Ich war nie er. Ich besaß nie diese Stärke. Ich war unsicher, das bin ich schon immer, ich war hilflos wie ich die Dinge ausdrücken sollte. Ich kann nicht die Dinge sehen, wie er sie sieht, die Wege finden, die er findet und wie er sie findet. Wenn ich mich verirre bin ich einsam, er nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war so hilflos. Alles was den Ort so schön machte, machte es an einem Abend so grausam. Jedes einzige Glücksgefühl, dass ich mit ihm und den Baum verbinde, zeigt mir, wie sehr es schmerzt ihn nicht mehr zu haben. Jedes dieser Erinnerungen und Gedanken fährt wie ein Messer durch meine Brust, füllt den ganzen Raum aus, sodass ich nicht schlafen kann. Es ist eine Folter. Ich halte es einfach nicht aus", sagte sie. Ihre Stimme war rau und kratzig.

„Du würdest also lieber alles vergessen machen, damit du dieses Gefühl nicht aushalten musst? Du würdest also lieber ihn nie kennengelernt haben?", fragte ihre Therapeutin. Es traf sie wie ein Schlag. Würde sie ihn, lieber nie gekannt haben? Nie so sehr gekannt, gemocht und geliebt, damit sie jetzt nicht diesen Schmerz erfuhr?

Sie war wieder unter dem Maronenbaum. Sie beobachte Kühe, Amseln, Hühner, Fliegen, Grashüpfer. Sie waren alle hier mit ihr. Er fehlte immer noch, doch sie hatte gelernt zu leben und Dinge anders wahrzunehmen. Der Himmel war dunkelrot, doch diesmal war es ein beruhigendes Rot. Es war eher Orange. Es fühlte sich nicht mehr wie der Untergang der Welt an, sondern wie ein Ende einer Geschichte.

Hey! Hier ist ein kleiner Kommentar von mir, der Autorin:

Es ist das erste Mal, dass ich eine so kurze Kurzgeschichte schreibe. Sie ist entstanden, durch einen Schreibwettbewerb an meiner Schule, in der man ungefähr fünf Stunden Zeit hatte. Dabei mussten zwei Regeln respektiert werden: Der erste Satz musste „Eines Tages trafen sie sich unter einem Baum am Rande des Dorfes" sein und irgendwo im Text sollte es das Wort „Grashüpfer" geben.

Jedenfalls habe ich viel auf Bedeutung in diesen Text gelegt. Dabei ist er, der Junge, den die Hauptperson liebt, eine Personifikation für meine Liebe für Kunst. Und die grauen Männer, also die Angreifer, die Personifikation für die systematischen Aufgaben, die ich tun muss, und ihre Zigaretten, die Blütenblätter, die sie rauchen, ist die Zeit, die sie mir nehmen, künstlerisch zu sein.

Ihr könnt ja schreiben, wie ihr die Geschichte findet. Was ist für euch Kunst? Für wie wichtig haltet ihr es, sich Zeit zu nehmen und künstlerisch zu sein?

Der MaronenbaumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt