JG85

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Herr G. Kaum ein Lehrer, nein ich würde sogar sagen Mensch, hat mich je so gut verstanden wie er es tat, tut und hoffentlich noch lange tun wird. Und an manchen Tagen habe ich das Gefühl, dass er die einzige Person auf diesem Planeten ist, die weiß was ich fühle. Und woran liegt das? Ich denke es liegt daran, dass ich ihn ein bisschen an sich selbst vor etwa 20 Jahren erinner: Ein recht fröhlicher, offener Teenager, der aber mehr als häufig zum Außenseiter wird, vielleicht sogar zu einem Abtrünnigen, der aber abseits der Masse sehr gut zurecht kommt. Und warum ist er ein Außenseiter? Vielleicht wegen seiner Offenheit, aber wahrscheinlich eher wegen seines Aussehens was sich eindeutig in eine Randgruppe einordnen lässt. Da Menschen häufig auf Äußerlichkeiten achten wird das wohl der primäre Grund sein. Ein zweiter wären dann wohl seine Interessen. Sein Musikgeschmack beinhaltet zwar auch für seine Jugend Mitte der 90er typische Musik, wie die Ärzte, aber ordnet sich mit seiner Vorliebe für die 60er und 70er, vor Allem "The Doors" und "Janis Joplin", eindeutige der "Gruppe" "Born in the wrong generation" ein. Auch sein Humor ist ein Wenig speziell, so mag er unter Anderem Monty Python recht gern und die sind schon sehr speziell.

Zirka 20 Jahre später bin ich in der Mitte meiner Jugend. Ich mag auch Die Ärzte, finde Janis Joplin und The Doors absolut hörbar, liebe besonders Queen und The Beatles, Monty Python ist meine Religion und ich weiß, dass ich in dieser "überglobalisierten" und "überamerikanisierten" Zeit in der nicht mehr auf die Gemeinschaft, sondern auf das Individuum Wert gelegt wird, absolut "born in the wrong generation" bin. Und über die vier Jahre, in denen ich Herrn G. im Unterricht hatte, haben wir uns ,durch Kommentare beider Seiten, doch nach und nach kennengelernt und auch oft im Unterricht Gespräche über solch essentielle Dinge wie den Traum vom Leben in den 60er ausgetauscht. Ich denke seit etwa zwei Jahren ist uns beiden, aber dem Umfeld klar, dass wir beide einfach gut miteinander können. Wir vertragen uns nicht nur und kommen zurecht, nein. Wir beide suchen das Gespräch miteinander, um uns über Interessen und Ansichten auszutauschen und ich denke nicht nur ich habe Spaß an diesem "kollegialem Verhältnis" zwischen uns. So habe ich mich vor einigen Wochen bei ihm beschwert, dass er mich nie grüßt, beziehungsweise zurück grüßt, wenn man sich dann schon auf dem Flur trifft. "Ich grüß' dich immer, also zumindest in Gedanken." hat er darauf geantwortet. Das nächste Mal, als ich ihn getroffen habe, stand ich mit einer Gruppe von etwa 10 Menschen, von denen er, mit mir, mindestens vier namentlich kennt, und er sagte, nein brüllte förmlich:"Hallo, Clara!" Ich lachte und antwortete "Hallo, Herr G." So ging das für ein paar Tage und irgendwann fing er an "Erster!" zu rufen, wenn er seine Begrüßung vor mir ausführte. Das ging dann bis vor wenigen Tagen so, bis er sich im Weitergehen nocheinmal umdrehte und sagte "Clara, ab heute Zählen wir. Wer zuerst zwanzig Punkte hat, bekommt ein Eis. Und ich Wette mit dir, ich gewinne." Von da an ist eine regelrechte Manie des Grüßens bei uns ausgebrochen und wir sind uns neun mal begegnet, was bedeutet, es steht 5 zu 4 für mich. Eine meiner Mitschülerin witzelt darüber immer mit Bemerkungen wie "Wow Clara, da kribbelt es ja richtig zwischen euch" oder "In der Abi-Zeitung wird stehen 'Was läuft eigentlich zwischen Herrn G. und Clara?"

Ja, genau. Was läuft da? Warum sind wir doch so etwas wie Freunde? Und wie kann es sein, dass Herr G. bei den meisten Schülern so unbeliebt ist?

Ich denke der Grund warum wir uns so gut verstehen ist offensichtlich: wir haben ähnliche Interessen und weil er merkt, dass ich auch ein Missverstandener bin, denkt er vielleicht es würde mir helfen wenn er mich "an seine Hand" und mir die Angst vor dem Außenseitersein nimmt wobei es jedoch auch sein könnte, und das würde mich wirklich ehren, dass ich auch für ihn eine solche Bedeutung habe und der erste bin, der auf das anspringt was er sagt. Quasi eine liegende 8. Wir erwidern vielleicht beide dieses Gefühl des endlich Verstandenwerdens. Und ja ich habe Gefühle für ihn, aber keinerlei romantische, erstens weil er schwul ist und zweitens, weil sie einfach nie existiert haben, nicht eine Sekunde lang. Und die Aufregung die ich momentan verspüre wenn ich ihn erblicke lässt sich mit unserer Wette begründen, die ich unbedingt gewinnen muss. Auch wenn viele glauben, ich wäre verliebt in ihn, denke ich, dass Herr G. und ich genau wissen wie wir zueinander stehen. Und ich denke er wird immer einen Platz in meinem Gehirn und Herzen haben, als der erste Mensch der mich je verstanden hat und wenn es etwas wie ein Leben nach dem Tod gibt, dann bin ich mir sicher, dass ich ihn dort wiedertreffe.

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