Mit den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tags wachte Caeli auf. Wie jede Nacht ist der Schlaf nicht einfach über sie gefallen. Meist dauerte es Stunden ehe sie auch nur ein Auge zu tat. Und dann begannen die Albträume. Nacht für Nacht träumte sie von dieser einen Nacht, die eine Nacht, welche ihr Leben für immer verändert hat. Es war, als würde sie nicht nur ihre eigenen Erinnerungen und Gefühle an diese Nacht wieder und wieder erleben - mehr wie die Erinnerungen einer anderen gemischt mit ihren eigenen. Und diese waren weitaus grausamer als das, was Caeli selbst gefühlt hatte. Mit einem Knoten im Magen und diesen schrecklichen Gefühlen im Kopf stand sie auf, zog die grünen Vorhänge auf und sah aus dem Fenster.
Der Ausblick, der sich ihr bot, war nach wie vor fremd für sie. Zwar war es der Ort, den sie seit einem halben Jahr ihr Zuhause nennen konnte, aber sie fühlte sich von Tag zu Tag fehl am Platz. Als würde dieser Ort hier sie abweisen, als wäre sie es nicht wert, als wäre sie nicht begabt genug, um hier zu sein. Draußen im Hof, den sie von dem kleinen Fenster aus sehen konnte, fielen bunte Blätter von den Bäumen und der Wind trug sie gemächlich von einem Fleck zum nächsten. Entlang der Mauern des Schlaftrakts, welche den Hof von allen Seiten umgaben, wuchsen wunderschöne Rosen in den verschiedensten Farben. Unter den herabgefallenen Blättern stach einem der kräftig grüne Rasen ins Auge. Genau in diesem Moment kam eine Gruppe von bunt gekleideten Frauen und Männern durch den östlichen Eingang in den Hof. Eine Szene, die Caeli schon häufig in den letzten sechs Monaten beobachtet hatte. Sie stellten sich in einer Reihe auf, schlossen die Augen und begannen leise einen Zauberspruch zu rezitieren, der dafür sorgte, dass die Natur auch in der kalten Jahreszeit hier blühte und dem Auge schmeichelte, was zugegebenermaßen ein unnötiger Luxus war. Es war nichts Besonderes, man konnte überall und jeden Tag Magiern bei ihrer Arbeit zuschauen. Hier in Ingenia war das absolut normal, schließlich bestand die Bevölkerung zu siebzig Prozent aus Magiern. Vor allem an den Akademien von Ingenia war es selbstverständlich, dass alles von Kiun, der Magie oder Energie und von Magiern umgeben war. Schließlich war dies ein Ort, an dem die Magier bis ins Erwachsenalter hinein den Umgang mit ihrer Kiun lernten.
Caelia wandte sich von den Magiern im Hof ab und machte sich auf in das Gemeinschaftsbad. Um diese Uhrzeit war sie dort ganz allein. War ihr nur recht war, denn sobald sie umgeben war von zu vielen Leuten, fühlte sie sich unwohl. Am liebsten war es ihr, wenn sie so wenig Personen wie möglich begegnete. Was sich im Leben einer Magierin an einer der Provinzakademien von Ingenia schlecht umsetzen ließ. Ein halbes Jahr zuvor besuchte Caelia noch die Akademie in ihrer Stadt - diese Art von Akademien sind nicht mal im Ansatz so groß wie es die von Aversim war, die sie nun besuchte. An Orten wie diesem hatte man selten keine Gesellschaft, denn die Akademie von Aversim war voller Leben. Deshalb genoss Caelia Momente wie diesen. Sie war schon immer ein sehr zurückgezogener Charakter, andere Magier oder Menschen machten ihr meistens Angst. Eigentlich hatte Caelia immer Angst, fast jede Sekunde ihres Lebens plagten sie Gedanken, dass sie nichts wert sei, dass sie es nicht verdient hätte zu leben. Aber seit zehn Jahren kämpfte sie dagegen an, mal mit Erfolg, doch häufig fiel sie wieder und wieder in ihr Loch. Dieser Dämon in ihrem Kopf machte es ihr quasi unmöglich, mit anderen gut zu agieren. Deshalb mied sie alle, soweit es ging. Und es gab einen Ort, an dem sie wirklich ungestört war - die Bibliothek. An der Akademie von Aversim stand die größte Bibliothek der acht Provinzen von Ingenia. Es gab hier unzählige Räume und verwinkelte Gänge vollgestopft mit Büchern und Manuskripten. Über drei Geschosse über der Erde zog sich der Teil der Bibliothek, den die meisten Schüler hier nutzen. Doch verfügte sie auch über zwei weitere Etagen unter der Erde. Dort fiel kein Sonnenschein durch große Fenster, man musste sich also mit den kargen Lichtern begnügen - was die Anzahl der Besucher hier unten auf ein Minimum reduzierte. Und vor drei Monaten hatte sie ihn endlich gefunden - ihren geheimen Ort. Wiehäufig war sie ziellos durch die Gänge des Untergeschosses gestreift und hattehier und da ein Buch in die Hand genommen, nur um es dann wieder wegzulegen. Zwischeneng aneinander stehenden Regalen gefüllt mit Tagebüchern von unbedeutenden Landmagiern, die vor zweihundert Jahren gelebt haben, hatte sich ein kleiner Spalt befunden. Man hatte ihn kaum bemerkt und sie hatte noch jemanden hiergesehen, denn das Thema lud nicht direkt zum verweilen ein. Damals brachte sieden Mut auf und hatte sich durch den Spalt gequetscht. Dahinter war es stockfinster gewesen, nur ein schmaler Streifen zerstreuten Lichts ist durchden Spalt gefallen, durch den sie hierhergekommen war. Zögerlich hatte sie einekleine Lichtkugel mit Hilfe ihrer Kiun beschworen, um sich in der Dunkelheitzurecht zu finden. Zu ihrer Überraschung war sie nicht etwa in einem geheimenGang gelandet. Es war schlicht und ergreifend ein kleiner Raum gewesen, derdurch die Rückseiten von vier Bücherregalen entstanden war. Doch sie war nicht die Erste, die diese Nische entdeckt hatte. Ein alter Sessel, ein Stapel alter Bücher und einige Kerzen hatten in einer Ecke gestanden – alles war belegt miteiner zentimeterdicken Schicht Staub gewesen. Wahrscheinlich war derjenige, dervor ihr hier war, schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen. Es war perfekt für sie. Ein kleiner Raum ganz für sie allein.
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Amentia (Pausiert)
FantasyCaeli ist eine normale, nicht sonderlich begabte Magierin an der Akademie von Aversim. Seit ihrer Kindheit plagen sie furchtbare Albträume und Ängste - und eine Stimme in ihrem Kopf, die ihr jegliches Selbstwertgefühl nimmt. Bis sie eines Tages in d...