In dieser Nacht bin ich nicht rausgegangen. Ich bin auch nicht zum Abendessen gegangen oder zu irgendeiner anderen Aktivität außerhalb meines Zimmers. Dazu war der Tag einfach zu heftig.
Um 4 Uhr wache ich verschwitzt auf. Ich habe nicht gut geschlafen und kann nun auch nicht mehr einschlafen. Dieser Traum hält mich wach und lässt mich über meine ganze Situation nachdenken. Ich beschließe aufzustehen und zur Gartenhütte zu gehen. Ich muss mich erstmal auspowern. Langsam tappse ich durch unsere Villa und schleiche mich bis zur Terassentür vor. Schnell stelle ich die Alarmanlage aus und renne zur Hütte. Ich drehe die Musik laut auf und bin wieder mal dankbar das ich die Hütte damals schallisoliert habe. Ich fange also an und höre eine Stunde später erst wieder auf. Danach entschließe ich mich eine Runde im Pool schwimmen zu gehen. Gott sei Dank ist es in Kalifornien auch nachts noch warm. Langsam ziehe ich meine Bahnen und denke wieder an meinen Traum, den ich beim Training ganz verdrängt habe. Was ist, wenn ich alles falsch mache? Vielleicht ist das im Leben nun mal so. Vielleicht muss ich mich einfach der Gesellschaft unterordnen, um Leistungen abzugeben und anerkannt zu werden. Auch wenn das alles nicht mein Ding ist. Jedenfalls kann meine Situation nicht weiter bestehen bleiben. Ich muss aus dem Schatten meiner Schwester springen und einen eigenen Schatten hinter mir erschaffen. Leise gehe ich wieder ins Haus, mittlerweile ist es halb 6 und die ersten Angestellten sind wach. So auch die Stylistin meiner Mutter.
,,Morgen, Tiffany.'' sage ich zögerlich. Sie lächelt mich an. ,,Guten Morgen Miss. Kann ich irgendwas für Sie tun?'' Ich zögere noch etwas, aber dann denke ich an meine Vorsätze und frage einfach,, Würde es dir etwas ausmachen, mir ein Outfit für die Schule rauszulegen ? Und mir vielleicht mein Make-Up und meine Haare zu machen?'' Für den Moment sieht sie mich fragend an und ich denke schon sie sagt Nein. Doch dann glänzen ihre Augen. ,,Oh, sehr gerne Miss. Wie wäre es, wenn ich Ihnen etwas raussuchen während Sie duschen? Danach können Sie mich dann rufen und ich nehme mich Ihren Haaren und Gesicht an. Heute passt es sehr gut, da Ihre Mutter den ersten Termin erst um 9 Uhr hat.'' Ich nicke und verschwinde schnell in der Dusche.
20 Minuten später gehe ich, nur im Handtuch bekleidet in mein Zimmer. Auf einer Kleiderstange hängt mein heutiges Outfit. Ein schwarz karierter Skater Rock, kombiniert mit einer schlichten weißen Bluse und beigefarbenen Highheels. Ich muss schlucken. Das ist bis jetzt das auffälligste, was ich je anhatte. Ich schließe für einen Moment die Augen um mir sicher zu sein, ob ich das wirklich machen will. In dem Moment kommt Tiffany. Sie bemerkt meinen verunsicherten Blick und stellt sich hinter mich. Gedankenversunken stehe ich einfach nur da vor dem Spiegel. Ich habe Angst. Die Leute werden mich heute richtig wahrnehmen. Wenn ich wirklich dieses Leben leben will, dann darf ich besonders heute keine Fehler machen. Ich darf nicht versagen. Sicher ob ich das schaffen kann, bin ich nicht. Bin ich dem Druck gewachsen nun in der Öffentlichkeit neben meiner Schwester zu laufen? Ein Dauer Pokerface zu tragen und in den richtigen Momenten zu lächeln? Bin das wirklich ich? Will ich das überhaupt?
,,Gib dem ganzen eine Chance.'' sagt Tiffany sanft. ,,Ich weiß, es ist hier schwer für dich aufzuwachsen. Du bist nicht wie die. Das wusste ich schon seit du klein bist. Aber probiere es aus. Was hast du zu verlieren? Du kannst da darüberstehen, Grace. Du bist stärker als die, psychisch und physisch. Du bist eine Kingston. Dein Vater ist ein angesehener Politiker und deine Mutter eine erfolgreiche Modedesignerin. Wieso nutzt du das nicht aus?''
Wow. Ich wusste gar nicht das Tiffany mich so genau kennt. Ich sollte mehr auf sie Achten. Sie kann eine Hilfe sein und sie hat jetzt schon recht. Warum das ganze nicht mal ausprobieren. Ich atme tief durch. ,,Okay, gehen wir es an.'' sage ich entschlossen. Sie klatscht in die Hände und hilft mir beim Anziehen. Bei den Highheels hab ich noch so meine Probleme. Noch nie hatte ich so hohe Schuhe an. Ich setze mich das allererste Mal vor meinen Schminktisch und bin ganz erstaunt über die ganzen Produkte, die ich besitze. Tiffany beginnt mein Haar auszubürsten. Meine Haare sind pechschwarz und hüftlang. Ich muss mir eingestehen das ich wirklich schöne Haare habe. Trotzdem habe ich sie immer unter einer Kapuze oder in einem Zopf oder Dutt versteckt. Doch heute dreht Tiffany mir leichte Beachwaves. Danach bekomme ich einen dezenten Make-Up Look verpasst.
,,Eigentlich würde ich Ihnen noch lange goldene Ohrringsreifen anziehen, aber ich denke das reicht für heute.'' sagt sie und ich bin erleichtert. Ich muss nicht noch mehr auffallen. Tiffany eilt aus dem Zimmer, kommt 5 Minuten später aber mit einer großen Michael Kors Sonnenbrille wieder.
,,So erkennt man dich nicht sofort und keiner merkt wenn du hektisch einen Ausweg suchst.''
Dankend lächle ich sie an und ziehe die Brille auf. Ich begutachte mich im Spiegel und erschrecke mich erstmal. Noch nie habe ich mich so gesehen. Ich sehe tatsächlich irgendwie gut aus. Schnell drehe ich mich zu Tiffany um und umarme sie, leise hauche ich ein Danke in ihr Ohr.
,,Komm, hauen Sie sie um. Lass sie sehen wer wirklich in Ihnen steckt. Dann werden sie Sie auch in Ruhe lassen. Sie müssen nur einen einschüchternden Eindruck erwecken. Setzen Sie sich nicht in die letzte Reihe und selbst wenn Sie angestarrt werden müssen sie mit hocherhobenem Haupte durch die Flure laufen. Sie schaffen das, Miss. Aber Sie müssen jetzt los. Sind Sie bereit?''
Nochmal betrachte ich mich. Dann nicke ich eher mir als ihr zu und nehme meine Schultasche. Ich schaffe das.
Als ich die Treppe runtergehe sitzt meine Familie am Frühstückstisch. Schon lange frühstücke ich nicht mehr mit ihnen. Catrice ist auch schon fertig gemacht und sieht wie immer umwerfend aus. Als sie mich bemerken, klappt meinem Vater die Kinnlade runter, meine Schwester schreit auf und meine Mutter verschüttet Kaffee. Tiffany steht hinter mir und drückt meine Schulter. Jetzt geht es los.
Schnell haben sich alle wieder gefasst und lassen sich nichts von ihrer Verwunderung anblicken. Aber ich sehe die Blicke, die sie sich zuwerfen.
,, Was ist denn mit dir passiert? Hast du endlich eine Gehirnwäsche bekommen?'' fragt mich meine Mutter mit eisiger Stimme und meine Schwester lacht. Ich bin froh, dass ich meine Sonnenbrille aufhabe. So können sie die Tränen in meinen Augen nicht sehen. Mein Vater steht auf und verkündet, dass er jetzt losmüsse. ,,Du siehst gut aus Grace.'' sagt er steif. Das reicht schon und ich liege ihm 2 Sekunden später in den Armen. Meine Mutter und meine Schwester reden kein Wort mit mir. Auch auf dem Weg zur Schule schaut mich meine Schwester mich immer wieder missbillig an.
Kurz bevor wir ankommen redet sie dann aber doch mit mir. ,,Also ich weiß ja nicht, was mit dir passiert ist, aber denk jetzt nicht das du sofort beliebt bist. Jeder weiß was du für ein Stück Dreck ist. Daran ändert jetzt auch deine Veränderung nichts.'' sagt sie kalt und steigt aus. Ich bleibe noch kurz im Auto sitzen. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Das mein Leben jetzt perfekt ist und ich in Ruhe mein Ding durchziehen kann? In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich mir das erst erkämpfen muss. Ja, ich muss mit meiner Schwester konkurrenzieren. Mal sehen, wie weit ich es bringe. Ich denke an Tiffanys Worte und versuche selbstbewusst aus dem Auto auszusteigen.
DU LIEST GERADE
Die verborgene Stärke
Teen FictionEs ist nicht schlimm unsichtbar zu sein. Es ist nicht schlimm ignoriert zu werden. Es ist nicht schlimm keine Freunde zu haben. Denn solang das alles zusammen passiert, kann man einfach sein Leben leben. Allein. Es wird erst schlimm, wenn die gan...