Zweifel

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Leonora stand schon seit Stunden am Fenster ihres Zimmers und sah nach draußen. Sie beobachtete die Männer, wie sie im Steinkreis vor der Villa trainierten. Die Sonne am Horizont über Monteriggioni leuchtete in einem warmen friedlichen Orangeton. Es war ein absolut idyllisches Bild. Nun - endlich - war Frieden eingekehrt. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf Leonoras Gesicht. Sie hatte mit ihrem Wissen viele vor dem Tode bewahren können, ja gar vor schlimmeren Schicksalen, als nur dem Tod. Nicht alle, aber viele. Doch ihre Zeit im Italien der Renaissance neigte sich dem Ende zu. Und es schmerzte sie so sehr, dass sie den Gedanken daran kaum ertragen konnte.Der kampfeslustige Bariton Ezios ertönte, als er seinen Onkel Mario mit einem Hieb entwaffnete. Siegesgewiss streckte er die Arme in die Höhe und ließ sich von den Umstehenden bejubeln. Seit sie und Ezio vor einigen Tagen aus Venedig zurückgekehrt waren, war er so gelöst, wie sie ihn noch nie in den fünfeinhalb Jahren erlebt hatte, in denen sie ihn begleitet hatte. Nun... zumindest war er es, wenn sie nicht in seiner Nähe war. Nora war mittlerweile so lange hier, dass sie sich gar nicht mehr so recht an ihr altes Leben erinnerte. All das hier war ihr Leben geworden. Grinsend beobachtete sie Mario, wie er seinen Neffen von den Füßen trat und der der Länge nach auf dem Rücken landete. Die Umstehenden grölten noch lauter und auch Nora konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen. Ja, eigentlich war Leonora zufrieden. Ihr Herz aber war schwer vor Trauer. Bald würde sie in ihre Zeit zurückkehren müssen. Wann und wie wusste sie nicht. Doch wahrscheinlich würde es genauso plötzlich geschehen, wie ihre damalige Ankunft.

Die Aufgabe, die ihr bestimmt war, hatte sie nun erfüllt. Sie erinnerte sich nur zu genau an die Worte der golden glimmenden Frau in ihren Träumen. Sie solle das Schicksal der Assassinen zum Guten wenden und den Fortbestand von Ezios Blutlinie sichern. Nun hatte Ezio mit Leonoras Hilfe auch Christina Vespucci vor ihrer Ermordung bewahren können. Sie war sein Schicksal. Nora hatte es oft genug in ihren Träumen gesehen. Vermutlich würde er schon bald nach Florenz zurückkehren, um sie zu heiraten. Oder Christina würde ihm nach Monteriggioni folgen, jetzt wo sie nach dem Tod ihres Mannes keine Zweckehe mehr in Florenz hielt. Sicher würden sie viele Kinder haben, Kinder mit seinen Augen, seinem Charme und ihrem exquisiten Geschmack. Und nun, da Nora den Lauf der Dinge nicht mehr kannte... nun, da Ezio mit ihrer Hilfe alles zum Besseren gewendet hatte, die Verräter enttarnt und die Borgia getötet hatte, bevor ihr perfider Plan überhaupt richtig reifen konnte, war sie ihm von keinem Nutzen mehr. Sie wusste sich gewiss zu verteidigen. Doch konnte sie weder besonders gut kämpfen, klettern, noch war sie eine sonderlich talentierte Diebin und erst recht war sie ungeschickt in der Kunst der Manipulation. Denn eines konnte Leonora überhaupt nicht – lügen. Und mit einer Dame aus gutem Hause und von so makelloser Schönheit wie Christina konnte Leonora als Kind einer fremden Welt ohnehin nicht mithalten. Tränen sammelten sich in ihren Augen, als sie einmal mehr diese Erkenntnis traf. Und auch wenn sie wusste, dass sie eigentlich nicht hierher gehörte, dass sie eigentlich großes Glück hatte, nicht in dieser fremden, gefährlichen Zeit umgekommen zu sein, fühlte sie sich hier so wohl und vollständig, wie noch niemals zuvor. Und Schuld daran war er.Die lange Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, hatte ein starkes Band geknüpft. Wahrscheinlich kannten sie einander besser, als irgendjemand anders - auch wenn sie gerade alles dafür taten, einander misszuverstehen. Zahlreiche Male hatte Ezio ihr das Leben gerettet, ja sogar zweimal einen Pfeil für sie eingefangen. Und zahlreiche Male hatte sie ihn gepflegt und anschließend gezügelt, vorschnell wieder auf eine Mission zu gehen. Ihm mangelte es an Vorsicht und ihr an Leichtsinn. Und so hatten sie einander beschützt. Eine Situation jedoch war ihr ganz besonders lebhaft in Erinnerung geblieben. Erst vor ein paar Wochen hatte Ezio nach einem Sturz aus großer Höhe einen Herzstillstand erlitten. Nora war außerordentlich mutig, doch in diesen Minuten hatte sie die Angst um ihn vollkommen übermannt. Glücklicherweise war es ihr gelungen, ihn zu reanimieren. Ohne das Wissen ihrer Zeit wäre er dem Sturz erlegen. Sogar jetzt kamen ihr beim Gedanken an Ezios leblosen Körper die Tränen, denn die Angst um ihn war noch immer viel zu greifbar.

[Ezio Auditore] TimeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt