41

2 0 0
                                    

Als Kind wollte ich Astronaut werden. Dann las ich über die ganzen physischen Tests, die angehende Weltraumfahrer absolvieren mussten, und revidierte meine Entscheidung. Eine Zeit lang wusste ich nicht, was ich später machen wollte, bis mir die Idee kam, eine Buchhandlung aufzumachen.

Ich würde so viele Bücher anschaffen – Gebrauchte und Neue, Klassiker und moderne Literatur, Sachbücher und Belletristik –, dass der Laden förmlich überquellen würde. Die Bücher wollte ich bis unter die Decke stapeln, sodass man die Wände nur erahnen konnte. Wie in einem Labyrinth müssten sich die Kunden zwischen den Büchertürmen bewegen und ich wäre der einzige, der alle Wege kannte. Zielsicher hätte ich aus den Tausenden von Büchern das eine herausgezogen, nachdem jemand gefragt hatte.

Als ich meinen Großeltern von der Idee erzählte, sagten sie, dass man als Buchhändler praktisch an der Armutsgrenze lebte und man für die Eröffnung eines Ladens Startkapital brauchte. Ich sollte mir lieber etwas Anderes überlegen.

Nicht, dass es mir wichtig gewesen wäre, viel Geld zu verdienen, aber nach dem Gespräch war mein ganzer Enthusiasmus verflogen. Wahrscheinlich hatte ich nicht mit Ablehnung gerechnet. Als ich später darüber nachdachte, welche Alternativen es gab, wollte mir nichts mehr einfallen. Ich wusste nicht, worin ich gut war, ich konnte nur sagen, was ich nicht gut konnte.

So fiel es mir unglaublich schwer, mit anderen Menschen zu sprechen oder sie zu verstehen, weil sie oftmals genau das Gegenteil von dem sagten, was sie eigentlich meinten. Außerdem erwarteten die Leute, dass man manchmal die Wahrheit sagte, aber in anderen Situationen wiederum nicht. Ich verstand dieses Konzept nicht und wusste nie, was ich wann tun sollte.

Als mich Marie fragte, was ich über die Geschehnisse im Eisladen dachte, sagte ich, dass ich mich einerseits für sie freute, aber andererseits traurig war. Nachdem ich das ausgesprochen hatte und Marie mich erstaunt anstarrte, hätte ich mich dafür ohrfeigen können. Ich hatte ihren Optimismus ausgebremst, wie damals meine Großeltern meine Buchladenidee. Aber jetzt war es nicht mehr rückgängig zu machen.

„Warum macht dich das traurig, Arthur?", wollte sie wissen.

Ich rang nach den richtigen Worten. „Weil es der Anfang vom Ende zwischen uns ist."

„Das verstehe ich nicht."

Mir schossen hunderte von Sätzen durch den Kopf, die ich ihr alle hätte sagen können. Dass ich eifersüchtig auf ihren Freund aus dem Eisladen war. Dass sie meine einzige richtige Freundin war und ich Angst hatte, sie zu verlieren. Dass ich glaubte, sie eigentlich schon verloren zu haben, denn je näher sie ihrer Vergangenheit kam, desto mehr entfernte sie sich von mir.

„Kennst du das Newtonsche Gravitationsgesetz?", fragte ich sie. Marie schüttelte den Kopf.

„Es besagt, dass jedes Objekt von einem anderen Objekt angezogen wird. Je weiter die zwei Objekte voneinander entfernt sind, desto stärker nimmt diese Anziehungskraft ab. Bei uns ist es genau andersherum." Marie war vor einer Bäckerei, die schon geschlossen hatte, stehengeblieben. Die Straße war menschenleer. „Wenn du nicht bei mir bist, wird diese Anziehungskraft stärker. Ich muss dann ständig an dich denken. Aber inzwischen glaube ich, dass ich mir da nur selbst etwas vorgemacht habe. Die ganze Zeit über hast du dich von mir fortbewegt." Ich legte meine rechte Hand auf meine Brust und machte eine ausladende Bewegung. „Du bist auf der Suche nach deiner Geschichte, ich bin nur Beiwerk. Egal, ob diese Anziehungskraft zwischen uns da ist oder nicht, ich werde nicht verhindern können, dass ich dich verliere. Vielleicht war es ein Fehler von mir, es überhaupt zu versuchen."

Marie sah mich traurig an, ihre Begeisterung von vorhin war wie weggeblasen. Ich wollte sie umarmen, aber ich traute mich nicht, aus Angst, dass sie zurückweichen würde.

Eine Träne kullerte ihre Wange herunter, sie wischte sie weg. „Wir leben in zwei unterschiedlichen Sphären, Arthur. Aus irgendeinem Grund, den wir beide nicht begreifen, kannst du mich sehen. Das hat etwas in mir ausgelöst. Ganz langsam scheint meine Vergangenheit zurückzukehren, meine Gefühle, vielleicht sogar mein richtiges Ich. Aber ich kann dich da nicht mit reinziehen, das wäre unfair. Auch wenn du das willst. Ich merke, dass ich dieses Rätsel alleine lösen muss... Ohne dich."

Mein Herz wollte in meiner Brust zerspringen. Marie breitete die Arme aus, um mich zu umarmen, aber ich wich zurück. Ich konnte sie nicht berühren.

„Dann ist das jetzt unser Abschied", murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihr. Es war weniger als Frage denn als Feststellung gemeint.

„Ich weiß es nicht. Du bist toll. Der beste Freund, den man sich vorstellen kann. Aber ich werde dich nur enttäuschen. Ich..." Ihre Stimme brach ab und sie schluchzte.

Ich erinnerte mich daran, wie sie damals über die Mauer geklettert und über den Fußballplatz auf mich zugekommen war. Wie verwundert ich gewesen war, was sie von mir wollen könnte. Das alles schien Lichtjahre entfernt zu sein. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich um und ging.

„Arthur warte", rief sie mir hinterher, aber ich machte nicht Halt, sondern ging einfach weiter. Ich wollte und konnte nicht umkehren. „Reiß dich zusammen", sagte ich zu mir selbst. „Da musst du jetzt durch. Du wirst auch das verkraften. Das Leben geht weiter."

Aber so recht wollten die Durchhalteparolen nicht greifen. Wie auf Autopilot stieg ich in den Zug und ließ mich in einen Sitz fallen. Ich fühlte mich so unglaublich leer. Wenn ich die Augen schloss, sah ich Maries verweintes Gesicht und wusste, ich würde sie nie wiedersehen. Es war vorbei.

Der Zug rauschte durch die nächtliche Stadt. Leute stiegen ein und aus. Niemand beachtete mich. Mir wurde klar, dass ich wieder allein war. Nur fühlte sich diese Erkenntnis schlimmer an als jemals zuvor. Marie hatte mir bewusstgemacht, wie es war, einen Freund zu haben.

Als der Zug an meiner Haltestelle hielt, erhob ich mich von meinem Sitz und stieg aus. Es war nur ein kurzer Weg vom Bahnhof zu mir nach Hause, aber meine Knie waren so weich, dass ich mich am liebsten irgendwo hingesetzt hätte. Ich vergrub meine Hände tief in den Hosentaschen und ging mit gesenktem Kopf die Straßen entlang.

Ich war schon fast an unserer Haustür angekommen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. Erschrocken drehte ich mich um. Ein großer Mann mit Stoppelfrisur, der ungefähr Anfang zwanzig sein musste, grinste mich an. Es war kein freundliches Grinsen.

Hinter mir ertönte eine bekannte Stimme: „Na, wen haben wir denn da?"

Von GeisternWhere stories live. Discover now