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Der Tod ist so unausweichlich wie der Beginn des Lebens, aber nur über den Zeitpunkt des Todes konnte man frei entscheiden. Schon vor einigen Wochen hatte ich beschlossen, mein Schicksal nicht in die Hände von Ärzten oder dem Zufall zu legen. Die Sehnsucht, den Schmerz des Lebens einfach auszuschalten wie einen Fernseher, war zu groß geworden.

Die Rezeptoren in meinem Gehirn begannen, sich gegen die Gefühlslosigkeit der Tabletten zu wehren. Natürlich hatte ich nicht so viele Medikamente eingenommen, dass mein Herz von alleine aufhören würde zu schlagen. Zu groß war meine Angst, dass ich doch irgendwie überleben würde und meine Eltern mich halbtot auffanden, einen Notarzt riefen, der meinen Magen auspumpte und mich ‚rettete'. Das wollte ich weder mir noch ihnen antun.

Aus der Schreibtischschublade in meinem Zimmer holte ich die Abschiedsbriefe. Es war ein dicker Stapel geworden. Sorgsam platzierte ich sie auf meinen Schreibtisch. Ganz nach oben legte ich einen weißen Umschlag auf dem „Mama und Papa" stand. Mehr war nicht zu tun und ich hielt einen Moment inne. Mein Herz raste. Alles fühlte sich so furchtbar anstrengend an. Am liebsten hätte ich mich ins Bett gelegt und für eine Ewigkeit geschlafen. Aber ich durfte jetzt nicht schwach werden. Ich nahm all meine Kräfte zusammen und ging in den Flur.

Mike kniete auf dem Boden vor dem Bad und weinte. Er war das personifizierte Unglück. Als er mich kommen hörte, stand er auf und wischte sich die Tränen weg. Wir standen uns ganz dicht gegenüber und sahen uns in die Augen.

„Ich will dich nicht verlieren." Seine Stimme war nur noch ein angsterfülltes Flüstern. „Aber ich verstehe, warum du es machen willst."

Das hatte ich nicht erwartet. Monatelang war ich mit meinem Geheimnis allein gewesen, weil ich geglaubt hatte, dass niemand für meinen Entschluss Verständnis aufbringen würde. Und jetzt das. Derjenige, der mich erst seit einem gefühlten Augenblick kannte, sagte mir, dass er meine Entscheidung nachvollziehen konnte.

„Danke, Mike. Ich kann dir gar nicht sagen, was mir das bedeutet." Meine Augen füllten sich mit Tränen. „Du wirst mir fehlen."

Mike nahm mich in den Arm. Er schien sich wieder für einen kurzen Moment zu manifestieren. „Du wirst mir auch fehlen", sagte er, als wir uns voneinander lösten. Tränen kullerten meine Wangen hinab und ich konnte mit dem Weinen nicht mehr an mich halten.

„Komm nochmal her." Mike breitete seine Arme aus. Dankbar nahm ich das Angebot an. Dieses Mal konnte ich meinen Kopf richtig an seine Schulter lehnen und echten Widerstand spüren. Mike schien das gar nicht richtig wahrzunehmen, denn er sagte kein Wort dazu.

„Das Leben tut so verdammt weh", wisperte ich. „Ich kann das nicht."

Nach einer Weile löste sich Mike von mir, nahm meinen Kopf in seine Hände und küsste mich. „Geh jetzt, Olivia, sonst machst du es nicht und wirst ewig unglücklich sein. Wir sind beide verloren, jeder auf seine Weise."

Ich wusste, dass Mike recht hatte. Als ich durch ihn hindurchgegangen war, hatte er meine Gedanken gelesen wie ein Buch. Für mich gab es keine Rettung. Ich drehte mich um, ging ins Bad und machte die Tür hinter mir zu. Irgendwie fühlte ich mich dabei wie ein Raumfahrer, der ein Shuttle zum Mars betrat und wusste, dass er nicht zurückkehren würde.

Ganz langsam zog ich alle meine Sachen aus und legte sie ordentlich gefaltet auf die Waschmaschine. Wir kommen nackt zur Welt und ich wollte auch nackt sterben. Auf dem Laptop startete ich eine Playlist. Sorgfältig platzierte ich zwei Rasierklingen auf den Rand der Badewanne.

Hatte ich an alles gedacht? Ich versuchte mich zu konzentrieren und eine imaginäre To-do-Liste in meinem Kopf abzuhaken, aber es schwirrten tausend andere Gedanken herum und keinen bekam ich so richtig zu fassen. Ich gab es auf und stieg in die Wanne. Das heiße Wasser umschloss mich wie ein Mantel.

Eine Weile lag ich nur da und lauschte der Musik. Mein Brustkorb hob und senkte sich, als wollte mein Körper noch so oft wie möglich Ein- und Ausatmen, bevor ich meinen letzten Atemzug tat.

Als ich merkte, wie meine Augen langsam zufielen, nahm ich eine der Rasierklingen. Ich setzte die Klinge an der Arterie meines Oberschenkels an. Langsam erhöhte ich den Druck und die Ecke der Klinge bohrte sich in die Haut. Ein Blutstropfen quoll hervor und rann mein Bein hinunter. Es tat gar nicht weh, trotzdem hatte ich schreckliche Angst. Jetzt oder nie, dachte ich und stieß die Klinge so fest ins Fleisch, wie ich konnte. Dann zog ich sie in einer geraden Linie 15 cm nach unten. Es war anstrengend, dabei fest zuzudrücken. Blut strömte aus meinem Bein heraus und ich schrie auf. Mir wurde übel und das Wasser war mit einem Mal eiskalt. Bevor ich den Mut verlor, nahm ich die Rasierklinge in die andere Hand und vollführte die gleiche Prozedur mit meinem anderen Bein. Anschließend schnitt ich mir noch längs an den Handgelenken die Pulsadern auf.

Danach ließ ich erschöpft die Klinge fallen und meine Arme sanken ins Wasser. Ein blutroter Teppich breitete sich um mich herum aus. Mein Bewusstsein driftete langsam davon und ich stöhnte. Mehr und mehr Blut rann aus den Schnittwunden und breitete sich im Wasser aus. Ich hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Alle Energie schien mit dem Blut aus meinem Körper zu entweichen. Der Anblick des dunkelroten Wassers war so abstoßend, dass ich aus der Wanne herauswollte. Ich versuchte mich mit meinen Armen am Rand aufzurichten, konnte aber nicht genügend Kraft aufbringen und rutschte ab. Auch beim zweiten und dritten Anlauf gelang es mir nicht, danach war ich zu erschöpft, um es weiter zu versuchen.

Mit allerletzter Willensanstrengung rief ich: „Mike, wo bist du? Hilf mir."

Wahrscheinlich verstrichen nur ein paar Sekunden, mir kam es jedoch wie eine Ewigkeit vor, bis ich Mikes Stimme hinter der Tür hörte.

„Olivia, was ist los?", rief er von draußen.

„Ich... will... dass... es... aufhört. Hilf mir", stammelte ich unter Tränen.

„...Du hast die Tür zugemacht."

Ich rutschte nach unten und plötzlich war mein Kopf unter Wasser. Aus einem Reflex heraus hielt ich die Luft an. Panik machte sich breit. Verzweifelt versuchte ich mich mit meinen Füßen vom Ende der Wanne abzustoßen, aber meine Beine waren ebenso schwach wie meine Arme. Ich sammelte all meine verbliebenen Kräfte, stieß mich nach oben und schnappte nach Luft.

„...Olivia", hörte ich Mike meinen Namen rufen. Ich war zu schwach, um zu antworten und starrte nur die Tür an, während sich die Dunkelheit wie ein Schleier langsam über mich legte. Es war zwecklos. Ich würde sterben, so wie ich es gewollt hatte. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren.

Kaum noch bei Sinnen, sah ich, wie sich die Klinke nach unten bewegte. Die Tür wurde aufgestoßen und Mike stürzte auf mich zu. Seine Miene war eine Mischung aus Überraschung und Angst. Die Dunkelheit lichtete sich für einen Augenblick und ich fragte mich, wie es möglich war, dass Mike die Tür öffnen konnte.

Die Lichter im Bad begannen hell zu leuchten und ich hörte die Musik klarer als jemals zuvor in meinem Leben. John Mayersang „Dear Marie". Mich überkam eine merkwürdige Zufriedenheit, meine Angst war wie weggeblasen. Bevor ich das Bewusstsein für immer verlor, sah ich Mikes verwundertes Gesicht. Er hatte vor der Badewanne haltgemacht und starrte seinen Arm an, der im Begriff war, sich aufzulösen. Auch der Rest seines Körpers wurde mit einem Mal durchsichtig und verlor jede Kontur.

„Wir verschwinden beide", sagte ich zu ihm. Dann schloss ich meine Augen und versank für immer in der Unendlichkeit.

Von GeisternWhere stories live. Discover now