Sommer
Ich werd diesen Platz vermissen. Wie jeden Sonntag sitze ich unter der großen Linde, die ungefähr zehn Minuten von unserem Haus weg ist. Früher hab ich so ziemlich jeden Tag hier verbracht und Songs geschrieben, anderen Kindern beim Spielen zugesehen oder einfach nur dem Rascheln der Blätter im Wind gelauscht. In diesen Momenten war immer alles in Ordnung. Meine Welt, nein, mein Leben war in Ordnung. Heute sitze ich das letzte Mal hier, denn in wenigen Stunden werde ich im Flugzeug nach Kalifornien sitzen. Man sollte denken, dass ich mich freue. Ein 16-jähriges, englisches Mädchen kommt aus London raus und wird im Land der unendlichen Möglichkeiten leben. Aber so einfach ist das nicht. In meinem Alltag ist nichts normal, das war es auch nie. Nachdem meine Eltern vor zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben sind, hat sich alles verändert. Als ich aus dem Autowrack geborgen wurde, hatte niemand eine Ahnung, wo genau ich hinkomme werde. Sie hatten keine Papiere im Wagen gefunden, meine Eltern waren sofort tot. Über Umwege fand sich dann meine Tante Lauren, die damals jedoch nicht in der Lage war, sich um ein sechsjähriges Kind zu kümmern. Ich frage mich oft, warum ich überlebt habe. Warum meine Eltern jetzt weg sind und ich jeden Tag mit dem Gedanken an sie weiterleben muss. Ich träume jede Nacht von ihnen, von dieser Nacht im September. Jedesmal sehe ich dieselben Fetzten, ich höre das Lachen meiner Mutter, Micheal Jacksons ‚Earth Song’ der im Radio lief. Ich sehe den verliebten Blick, mit dem mein Vater immer wieder zu meiner Mama rüberstarrte. Und ich höre immernoch den Regen, der auf das Autodach prasselte. Und dann sehe ich die grellen Lichter, höre den Knall und anschließend ohrenbetäubende Sirenen. Manchmal überkommen mich die Bilder auch einfach so, oft in der Schule. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum mich jeder schief ansieht. Aber wie gesagt, in meinem Leben ist nichts normal.
Ich rupfe das letzte Mal ein paar Grashalme von der Wiese, das letzte Mal streiche ich mit meinen Fingerspitzen über die alte Rinde, ein letztes Mal atme ich den Duft der Freiheit ein. Dann mache ich mich auf den Nachhauseweg, in ein Leben, vor dem ich schon jetzt verdammte Angst hab.
„Wie geht’s dir, Maddy?“ Rose sieht mich mit einem sehr angestrengten und besorgten Gesichtsausdruck an. „Ich weiß nicht, ich will hier nicht weg...“ „Ich weiß Schatz, aber es ist besser so. Lauren wird gut auf dich aufpassen, so wie wir es auch immer getan haben.“ „Warum hat sie das dann nicht schon früher getan?“ sage ich schnippisch. „Ach Madeline, du weißt genau, dass das damals alles sehr schwierig war. Aber es ist an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich mit deiner Tante auszusprechen. Und hier wird trotz allem immer dein zu Hause sein, das weißt du.“ Sie steht vor mir, Tränen in den Augen und breitet ihre Arme aus. Ich drücke sie ganz fest und presse die Lippen aufeinander, um mein Schluchzen zu unterdrücken. Rose ist einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich kenne. Sie hat mich immer mit solcher Fürsorge und Hingabe behandelt, wie es wenige Leute auf dieser Welt können. Auch wenn sie nur die Heimleiterin ist, sie war immer wie meine zweite Mutter. „Gehst du schon Maddy?“ Rachel steht in der Tür und schaut bedrückt auf meine gepackten Koffer und die kahlen Wände, die zuvor mit Fotos und Postern volltapeziert waren. „Ja, ich schätze es ist so weit.“ Sie spielt unruhig mit den Fingern und versucht stark zu bleiben. „Komm schon her“ Ich öffne meine Arme und sie rennt förmlich zu mir. „Ich werde dich so vermissen“ nuschelt sie in mein Haar. Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und sehe sie ernst an. „Ich werde dich auch schrecklich vermissen. Aber versprich mir, dass du hier die Stellung hältst. Versprich mir, dass du stark bleibst, okay? Und spiel Sam und Carol nicht so viele Streiche“, versuche ich sie aufzumuntern. Sie schmunzelt. „Okay.“ „Du wirst immer meine beste Freundin bleiben, Rachel.“ Sie versucht zu lächeln. „Na dann, auf geht’s.“ Rose nimmt meinen Koffer und zieht ihn den langen Flur entlang bis zur Haustür. Den anderen aus dem Heim hab ich gestern schon Tschüss gesagt, ich wollte nicht so viele traurige Gesichter am Tag der Abreise sehen. Ich blicke ein letztes Mal in mein leeres Zimmer, in den kleinen goldenen Spiegel, der an der Wand hängt und betrachte mich darin. Ich bin so erwachsen geworden, hab hier so viel erlebt. Mit einem lauten Seufzer schließe ich die Tür. Ich bin wirklich nicht gut im Abschied nehmen.
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Soulmate
FanfictionNach einem tragischen Verkehrsunfall, bei denen ihre Eltern verunglücken, wird Maddy in ein Heim gegeben. Sie weiß nicht mehr viel von dieser tragischen Septembernacht. Doch immer wieder tauchen Bilder in ihrem Kopf auf, die sich nach und nach zu ei...