Sehen

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Schwankend nahm ich das kleine Glas entgegen und kippte den Kurzen runter. Er hinterließ ein scharfes Brennen in meiner Kehle, doch ich war es gewohnt und schon zu betrunken, um mich darum zu kümmern. Ich hielt das Glas wieder von mir weg und wer auch immer es mir in die Hand gedrückt hatte, nahm es wieder entgegen, und ich stolperte aus der Garage, in der die Party stattfand, in die Nachtluft hinaus.

Der Alkohol vernebelte meine Sinne zu genau dem Grad, an dem es angenehm war; keine Gedanken, keine Zweifel und keine Hemmungen, aber genug Verstand, um mich kontrollieren zu können. Auch wenn der Boden irgendwie uneben schien.

Plötzlich stieß mich jemand von der Seite an, und ich wandte meinen Kopf. Kurz drehte sich alles, bis mein Blick Marie fixierte, die mich mit einer Flasche Korn in der Hand anstrahlte. „Levi kommt!“, rief sie über die Musik hinweg, die aus der Garage dröhnte. „Bitte wer?“, schrie ich zurück und griff nach ihrer Schulter, um die Balance halten zu können. Sie legte eine Hand auf meinen Arm. „Levi! Als ob du Levi nicht kennst?“, antwortete sie ungläubig, dann wurde ihr Blick zu etwas anderem gelenkt. Mehrere Rufe, offensichtlich Jungenstimmen. Sie ließ meinen Arm los und lief auf die Stimmen zu, mich hinterherziehend. Kichernd ließ ich es geschehen.

Wir liefen zur Straße, die neben Maries Haus von einer einzelnen Straßenlaterne beleuchtet wurde. Die Gruppe Jungs kam uns entgegen und hoben die Flaschen in ihren Händen, als wollten sie uns zuprosten. „Hey, Marie!“, grölte einer von ihnen und der Rest schlug ihm auf die Schulter, als Marie lachte. „Das ist Tam“, stellte sie mich vor, und sie riefen durcheinander ihre eigenen Namen zurück, als könne ich sie mir jetzt merken. Und dann sah ich ihn.

Er sah chaotisch aus, aber auf eine gute Art, wie das Chaos, das ein Sturm hinterließ, irgendwie faszinierend. Er hatte dunkle Augen und eine scharfe, leicht zur Seite gekrümmte Nase, als hätte er sie sich schon einmal gebrochen. Er war groß und schlank, ein wenig zu dünn, jedenfalls hätte das der oberflächliche Betrachter gesagt. Seine Lippen waren schmal und er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er sah nicht typisch schön aus, nicht auf die Bilderbuchart. Er sah interessant aus, wie jemand, in dem man sich verlieren könnte. Und ich denke, das tat ich.

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Sie sah euphorisch aus, ihre blondierten Haare mit den dunklen Ansätzen zerwühlt und ihre Augen glänzend, wie jemand, der gerade etwas fantastisches erlebt hatte. Sie hatte leicht geschwollene Lippen und ein etwas zu breites Gesicht mit markanten Wangenknochen und einer kleinen, geraden Nase. Sie war keine Schönheit, doch durch ihre glühenden Wangen und umher huschenden Augen sah sie wild und lebendig aus. Wild und lebendig auf diese Weise, die unkontrollierbar war und einen einfach mitriss. 

(A/N) oki, zur erklärung: ihre sicht ist normal, seine kursiv

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