1. Das Gefühl von Samt
2. Ein rostiger Schlüssel
3. Eine kaputte Uhr
Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich schon in Gefangenschaft verbracht habe.Zeit hat ihre Bedeutung verloren und ich weigere mich, mit meinen Wärtern, Verzeihung, "Wachen" zu reden.
Die Einzigen, die mir verraten könnten, wie lange dieses Spiel noch gehen soll. Wie lange er mich noch vor der Welt verstecken möchte. Was genau er damit bezwecken will. Aber selbst wenn ich meine Fragen laut stellen würde, mir gibt man bestimmt keine Antworten.
Die beiden Männer, die aktuell Dienst haben, sind viel zu sehr damit beschäftigt Karten zu spielen und sich gepflegt zu langweilen, als dass sie mich tatsächlich bewachen. Ich starre sie durch die Gitterstäbe an, die eine der Zimmerwände ersetzen und kann ihnen ihr offensichtliches Desinteresse noch nicht einmal übel nehmen. Ich kann mir auch nichts weniger spannendes vorstellen, als auf ein womöglich labiles Mädchen aufzupassen. Zumal ich dazu übergegangen bin, die durch die Luft fliegenden Staubflocken zu beobachten, um mir die Zeit zu vertreiben.
Ich liebe es, wie sie von der Sonne beleuchtet werden. Tausend kleine Sterne, die mir in meiner Zelle Gesellschaft leisten. Na ja...vielleicht ist an dem "labil" ja doch etwas dran.
Mit dem Blick an die Decke gerichtet liege ich auf dem Fußboden, die Arme und Beine von mir gestreckt, als wolle ich einen Schneeengel machen. Meine Arme jucken. Ich hasse das Gefühl des schwerem Samtes auf meiner Haut. Noch so eine Sache die ich gerne wissen würde. Ich werde wie eine Gefangene gehalten. Nein ich bin eine Gefangene. Ich sitze hinter einer verschlossenen Tür, gegen meinen Willen, vor der Gitterwand zwei Wachen und sogar die Fenster sind mit Eisenbarren versehen. Aber eine Zelle ist es nicht.
Die, wenn auch zerrissenen, Vorhänge sind aus schwerem Stoff. Ebenso die des gigantischen Himmelbettes. Die Kissen sind weich und die Tagesdecke aus Seide. Die Wände, sowie mein Freund die Decke, zieren Fresken, deren Motive ich allerdings nicht mehr erkennen kann und die imposante Standuhr (neben dem Bett das einzige Möbelstück) ist eindeutig antik.
Zu schade, dass sie kaputt ist. Wobei ich das ja meine Schuld ist. Vor langer Zeit, wobei das relativ ist, wo ein Tag eine Ewigkeit einnimmt, habe ich sie in einem Wutanfall zerstört, genauso, wie ich die Vorhänge zerrissen und Wachen gekratzt und sogar gebissen habe. Das waren Zeiten wo mein Zorn mich aufgestachelt hat, bis ich nicht mehr Herr meiner Sinne war und ich nicht mehr klar denken konnte.
Aber der Zorn ist verschwunden und mit ihm auch mein Kampfgeist. Geblieben war Verzweiflung, aber auch die war nicht unendlich. Jetzt ist da nur noch Leere, so unendlich wie das Meer, das ich einst so sehr liebte.
Ich stehe auf und gehe gemessenen Schrittes zum Fenster. Ich streiche alle meine rotblonden Locken auf eine Seite und spähe zwischen den Gitterstäben hindurch. Das sperrige Kleid erschwert es mir allerdings mich über die große Fensterbank zu beugen.
Die Aussicht aber macht den Kleiderkampf mehr als wett.
Einige Stockwerke unter mir breitet sich ein riesiges parkähnliches Gelände aus. Statuen längst vergessener Gottheiten säumen in großen Abständen die spiralförmig angelegten Schotterwege. Uralte, von Unwettern geprägte, Eichen spenden Schatten. Anderorts erstrecken sich gigantische Blumenfelder; sie blühen in allen Farben des Regenbogens und wenn ich den Blick nach Osten wende, erblicke ich einen Irrgarten, dessen Hecken wohl das Lebenswerk eines Gärtners gewesen waren.
Doch wie die Fresken ist auch die Schönheit des Gartens verblasst. Die Zeiten in denen sich jemand um die Pflanzen gekümmert hatte, liegen schon lange zurück und die Natur hatte damit begonnen, ihr Reich zurückzuerobern. Nicht nur den Park, auch den Rest des Schlosses.
Ich weiß nichts über das Volk, das dieses Land einst bevölkerte. Nur, dass sie schon vor Ewigkeiten ausgelöscht wurden. Alles, was von ihm übrig ist, sind Ruinen. Denkmäler und Götter, die nun keinem Zweck mehr dienen, außer mein Gefängnis zu sein. Ich bin Gefangene dieser Gemäuer, verschleppt und vor dem Rest der Menschen versteckt und das von jemandem dem ich einst mein Leben anvertraut hätte.
Ich schwelge in Gedanken an dieses früheres Leben, als mich das Geräusch des rostigen Schlüssels zusammenfahren lässt.
Er.
Ich drehe mich nicht um sondern richte mich lediglich auf. Mir laufen kalte Schauer den Rücken hinunter und meine Arme werden, beim Geräusch seiner schweren Stiefel, von Gänsehaut überzogen.
Er stellt sich direkt hinter mich. Zu nah. Mit einer Haarsträhne zwischen den kalten Fingern, vergräbt er sein Kinn in der Kuhle meines Schlüsselbeines.
"Hallo mai Kaijstinta" flüstert er leise. Ich zucke zusammen, nicht nur vom Klang seiner Stimme, der mir so schmerzlich vertraut ist, sondern auch von seinen Worten. Der einstige Kosename fühlt sich an, wie ein Schlag ins Gesicht und treibt mir die Tränen in die Augen. Einst ein Symbol für alles, wofür wir gekämpft haben, ist er jetzt das Zeichen für alles, was wir verloren haben. Ich verloren habe. Weil er gewonnen hat. Er hat gewonnen und im Anschluss alles verraten woran wir geglaubt haben.
Ich kann seine Berührung nicht mehr ertragen; sie brennt wie Feuer und ist gleichzeitig kalt und hart, wie Stein.
Ruckartig drehe ich mich um und schaue ihm in die Augen. Erinnerungen schlagen in Wellen über mir zusammen und ich versuche krampfhaft nicht daran zu denken, wie wir als Kinder am Strand spielten, oder gemeinsam für die Freiheit kämpften. Das Gefühl seiner Lippen auf meinen, seinen Händen auf meiner Taille oder wie sich meine in sein Haar krallen, verfolgt mich wie ein Albtraum.
Ich richte meinen Blick weg von diesen teuflischen Augen, auf den schweren, ziselierten und mit Edelsteinen verzierten Goldreif auf seinem Kopf.
Für dieses Ding hat er mich, uns, und alles wofür wir standen, verraten.
Hoffentlich gefällt sie ihm.
"Hextrandij" stoße ich zitternd hervor. Meine Stimme klingt rau, vernachlässigt vom langen Schweigen. Verräter. Denn genau das ist er und das wird er immer bleiben.
Egal, wie lange er mich vom Rest der Menschheit abschneiden will, ich werde nie wieder seine Kaijstinta, seine Blüte sein.
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Für nur einen Moment
Short StoryEin Moment in der Geschichte... Nur kurz jemand anders sein... Das Leben eines anderen leben... In "Nur für einen Moment" ist jedes Kapitel einzigartig. Wo du bist und vor allem wer du bist spielt keine Rolle, oder nur für einen Moment