MICHAEL

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Ihre Stimme hallte noch immer in seinem Kopf wider. Weit entfernt, verzerrt und so laut. So laut. Sie hatte so geschrien. Er war so wütend gewesen. Wütend auf sie und sich selbst. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wusste sie denn nicht das ihr Handeln auch Konsequenzen mit sich trug?
Das Metall fühlte sich schlagartig viel kühler in seiner Hand an. Wie ein Eiskristall glänzte es im fahlen Licht der untergehenden Sonne die durch die hohen Fenster brach und sich im spärlich möblierten Zimmer verteilte. Das alles konnte nicht wahr sein. Das durfte es nicht.
Er ließ das Messer fallen und sah zu wie es den Holzboden zersplittern ließ. Die dickflüssige Substanz darauf verteilte sich in alle Richtungen, erwischte ihn am Bund seiner Jeans. Die Farbe war so grotesk Rot. Wie Rosenblätter. Wie schön es gewesen wäre, wenn es Rosenblätter wären. Was würde er jetzt dafür geben. Sein Schrei dröhnte in seinen Ohren, hämmerte auf seinen Schädel ein, ließ sein Herz für ein Bruchteil einer Sekunde stehen bleiben, so wie es ihres vor ein paar Minuten getan hatte. Oder vor Stunden? Vor Jahren? Das konnte er nicht sagen.
Plötzlich wurde ihm ganz heiß. Die Wärme breitete sich nicht erst auf seiner Haut aus, wie die Strahlen der Sonne es bewirkten. Nein, sie staute sich in seinem Magen an, während er sich auf die Knie zwang um ihr beizustehen. Ihre lieblichen Augen starrten ihn an, aber nicht wie damals als ihm ihre Ehe noch etwas bedeutet hatte. Damals waren ihre Haselnussbraunen Augen voller Liebe und Zuneigung gewesen. Sie hatten ihn mit einer ähnlichen Wärme gefüllt. Nur hatte diese Wärme nicht diesen bitteren Beigeschmack enthalten. Doch nun waren diese lieblichen Augen so leer... Auf einen Punkt weit in der Ferne gerichtet. Auf einen Ort den er nicht hätte erkennen können. Ob sie das Licht sah? Michael beugte sich zu seiner Geliebten, hauchte verzweifelt einen Kuss auf ihre Stirn und hielt abrupt inne.
"Michelle?" aus seinem Mund kam nichts als ein Flüstern. Zu mehr war er nicht fähig.
"Michelle! Antworte mir!" Doch sie wandte ihre schönen Augen nicht in seine Richtung. Nun fiel ihm auf wie dunkel sie waren. So viel dunkler als ihre Haut, die nun fast weiß in dieser Abenddämmerung wirkte. Und sie war auch genauso kühl. Abrupt spürte er wieder die Klinge in seiner Hand, als hätte sich das kalte Metall in seine Haut und bis zu seinen Knochen gefressen.
Ruckartig breitete sich diese fahle Wärme in seiner Magengrube aus, schlich sich in alle seine Muskeln, seine Glieder, bis sie taub zu sein schienen. Und die Übelkeit die darauf folgte kam genauso überraschend. Hastig hievte er seinen zu schwer gewordenen, leblosen Körper hoch und eilte zur Spüle. Heiß wie Lava kam sein Mageninhalt seine Speiseröhre hoch und er erbrach sich hustend im Spülbecken. Er würde es auch nicht anders verdienen. Michael würgte noch eine Weile den Rest seines Frühstücks hoch, bevor er es schaffte schwer atmend den Kopf zu heben. Die Wärme war unterdessen nicht verschwunden, sie war zu einem heißen Feuerball mutiert der sich immer tiefer in seine Eingeweide grub. Und nun wusste er auch was das zu bedeuten hatte. Angst. Er hatte solche Angst. Sie drohte ihn zu ersticken und zu zermalmen bis rein gar nichts mehr von ihm übrig blieb. Ohne zu wissen was er jetzt tun sollte schlich Michael auf den leblosen Körper seiner Frau zu. Sie lag genauso dort auf den harten Holzdielen wie er sie vor ein paar Minuten da gelassen hatte. Bedächtig ließ Michael seinen Blick über sie schweifen. Der Tag ihrer ersten Begegnung schoss ihn durch den hämmernden Schädel. Eine Sommernacht in der eine Party stattfinden sollte. Bei seinem besten Freund Victor. Bei dem Gedanken an dem Mann der schon als Bruder für ihn gegolten hatte wich diese Teerartige Wärme aus seinen Gliedmaßen und Eiseskälte machte sich breit. Wut. Er war so wütend. Michael ließ sich wieder einmal auf den kalten Boden nieder. Ließ seinen starren Leib an der Kücheninsel hinunter rutschen, bis er den Boden unter sich wahrnahm. Durch diesen heuchlerischen Mistkerl hatte er alles verloren. Alles was ihm lieb war. Und dazu gehörte auch seine Michelle. Mit einem Mal wurde ihm bewusst wie kalt es doch i  diesem Raum war. Er zitterte nun schon am ganzen Körper. Die Härchen in seinem Nacken hatten sich aufgestellt und er glaubte kleine Dampfwolken vor seinem Gesicht zu sehen. Ja es war viel zu kalt. Er stand einmal mehr auf und auch wenn sich alles zu drehen begann hechtete er zum Sofa um eine Wolldecke zu holen.
"Hier Schatz. Es ist doch sonst viel zu kalt." nachdem Michael die Decke zu Michelle gebracht hatte wickelte er sie sofort darin ein um die Kälte von ihrem kleinen Körper fernzuhalten. Er hatte sie in sein Schoß gelegt und wiegte sie hin und her, während er beruhigende Worte in ihr Ohr hauchte.
"Michelle, mein Schatz. Wir dir wärmer?" er wollte wissen wie es ihr geht. Aber sie sprach nun nicht mehr mit ihm. Und sie wandte ihre lieblichen Augen auch nicht mehr in seine Richtung. Aber es tat ihm doch leid. So leid. Verwirrt und entsetzt schüttelte er seine Frau ein wenig, wobei ihre braunen Locken aus ihrem Gesicht rutschten und seine Handgelenke streiften. Ähnlich einer zarten Liebkosung. "Michelle, es tut mir leid."
Doch sie antwortete ihm nicht.
"Ich hab mich doch schon entschuldigt!" Ein Schluchzen drängte sich in seine zitternde Stimme.
"Es tut mir so leid, Michelle." So flehentlich. Seine Stimme hörte sich sonst nie so an. "Michelle..."
Michael schob seine bebenden Finger unter ihr Kinn und zwang sie ihn anzusehen. Ihre Augen trafen seine und unerwartet schossen die Tränen in seine Augen. Ließen seine Sicht verschwimmen bis er sie weg blinzelte und sie in Bahnen sein Gesicht runter liefen. Ihr Gesicht war noch bleicher, ihre blauen Lippen leicht geöffnet, als wenn sie etwas hätte sagen wollen, etwas wichtiges doch ihre Augen waren nicht voller Zuneigung. Entsetzen spiegelte sich in ihnen. Pure Angst, so klar, so greifbar. Noch mehr Tränen liefen sein Gesicht hinab. Die Erkenntniss die ihn in diesem Moment durchfuhr wie ei  schneidender Blitz schmerzte wie tausend blutende Wunden.
Die Bilder krochen durch den Nebel seines Verstandes, durch die Angst, die Verwirrung und dem Adrenalin. Michael sah zu der Kücheninsel die links neben ihm aufragte. Er sah den Dampf der von der Pfanne aufkam. Er hatte am Herd gestanden. Essen gekocht, während Michelle hereinkam um ihm von ihr und Victor zu erzählen. Vier Monate hatte sie gesagt. Vier Monate hatte das zwischen ihnen gelaufen. Sein Freund. Sein Bruder hatte ihn hintergangen. Und das mit seiner eigenen Frau. Michael war so wütend gewesen, hatte so geschrien und geflucht. Auch wenn Michelle anfangs versuchte ihn zu beruhigen, fing auch sie nach einer Weile zu schreien und zu fluchen an.
Verzweifelt sah er auf das Messer das über den Boden gerutscht war und nun am Rand der Kücheninsel lag. Blutgetränkt.
Er hatte gerade frische Tomaten geschnitten. Dann hatte er sich wutentbrannt umgedreht, er hatte allerdings nicht bemerkt das sie bereits hinter ihm stand. Das Messer hatte wie Butter ihren Körper, ihr Fleisch durchschnitten. Direkt unter ihrer Brust. Perfekt durch die Rippen. Hätte er nur die Rippen getroffen und wäre nicht bis zum Herz vorgestoßen.
"Es tut mir so leid..." murmelte er in ihre weichen Locken, bedeckte ihren Scheitel mit Küssen. Drückte ihren zierlichen Körper fester an seinen. Doch sie antwortete ihm nicht.
"Scheiße! Was hab ich nur getan!" es war an niemanden außer an sich selbst gerichtet. Michael hatte die Wahrheit erkannt. Doch er erkannte noch nicht das Ende seiner persönlichen Horror Szenerie. Ob seine Geschichte wie die von Romeo und Julia enden würde, oder ob er zum Telefon greifen und sich der Polizei stellen würde. Aber was wäre das für ein Leben?

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