I am a realist

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Jeder normale Mensch hat Angst.

Aber was fühle ich denn überaupt?

Angst ist ein Grundgefühl, das sich in bedrohlichen und unsicheren Situationen äußert. Man kann einfach sagen, dass man Angst verspürt und jeder weiß ungefähr, was gemeint ist. Dabei trägt ein so simples Wort wie „Angst" eine Vielzahl von Gefühlsregungen mit sich, die sich an manchen Stellen eben überschneiden. Sie sind abhängig von konkreter Situation und vom Persönlichkeitstyp der betroffenen Person.

Um das alles ein wenig anschaulicher darzustellen, sind Psychoanalytiker zu dem Entschluss gekommen, dass sich Angst in vier größere Teilbereiche untergliedern lässt: „Angst vor Veränderung", „Angst vor der Endgültigkeit", „Angst vor Nähe" und „Angst vor Selbstwerdung". Ob ich oder irgendwer sich wirklich darin wiederfinden kann sei dahingestellt, denn ich bezweifle, dass ein so simples Wort wie "Angst" sein volles Potenzial mit ein paar Worten erläutern lässt.

Aber beginnen wir mit dem Ansatz der Wissenschaft.

Viele Menschen, die ich kenne, haben Angst vor dem eigenen Tod; was ich also dann zur „Angst vor der Endgültigkeit" zähle. Nichts besonderes eigentlich, wenn man es so sagt; dabei sind viele von ihnen noch jung, leiden nicht an Altersschwäche oder haben sich schon einmal in ernsthaft gefährlichen Situationen befunden. Es ist ganz alltäglich geworden davor Angst zu haben in einer Welt, in der du Angst haben musst, an Lebensmittelvergiftung oder an einem Klavier, das dir aus dem zweiten Stock auf den Kopf fällt, zu sterben. Nichts Besonderes.

Aber genauso gut könnte man es „Angst vor Veränderung" nennen, schließlich ist noch keiner lebend vom Tod zurückgekerhrt, um uns zu erzählen, wie das so genau abläuft. Bis auf Jesus vielleicht. Aber der schien jetzt auch nicht so glaubwürdig. Also bleibt die Angst, dass sie etwas verändern könnte. Etwas, was man noch nie gespürt oder gesehen hat; von was man nicht weiß, ob es sich für einen selbst gut oder schlecht auswirken; wie schmerzhaft oder schmerzfrei es letztendlich sein wird.

Auch ich habe Angst vor dem Tod, kann also nachvollziehen, warum manche es als ihre größte Angst betiteln würden. Was ganz Normales. Aber noch viel mehr Angst als vorm Sterben habe ich vorm Leben.

Tod ist für mich einfach der Zeitpunkt, an dem mein Körper aufhört zu funktionieren, mein Herz nicht mehr schlägt, mein Gehirn abstirbt und ich schlichtweg nicht mehr lebe und vielleicht in einem Loch in der Erde verbuddelt werde. Uns alle wird er früher oder später ereilen und - sind wir mal ehrlich- ich kann sowieso nichts daran ändern. Mein Tod ist sicher. Ich kann an meinem eigenen Tod nichts falsch machen, da das einzige, das ich beim Sterben tun muss, Sterben ist. Gewöhnlich, denn wir sind nicht für die Ewigkeit geschaffen.

Aber vorm Leben habe ich so viel Angst, dass ich manchmal nachts nicht schlafen kann; oder dass ich nicht aufstehen will. Denn mein Leben ist alles andere als sicher und ich kann es falsch machen; kann es falsch leben oder zumindest weniger gut als jemand anderes. Ich bin für jede einzelne Handlung selbst verantwortlich und kann die Schuld daran keinem anderen zuschieben; was soll ich mit all den genutzt wollenden Minuten anfangen? Mir wurde es gegeben, ohne dass ich darum bitten konnte; noch dazu trägt so viele Verpflichtungen und es wird soviel von einem verlangt, dass ich davor schlichtweg Angst haben muss. Wenn ich daran denke, dass ich nicht einfach nur leben muss, sondern dass ich dieses oder jenes gegenüber anderen empfinden muss, dass ich dieses oder jenes erreichen muss, oder dass ich wissen muss, wer ich bin, welche Sexualität ich habe und welche Charaktereigenschaften mich am besten beschreiben. Dass ich mich selbst doch am besten kennen sollte und nicht jeden Tag aufstehen kann und mich verhalten kann, wie ich will, weil andere von mir schon Eigenschaften und bestimmte Verhaltensmuster erwarten. Was soll ich mit all den erwartenden Minuten anfangen?
In Wirklichkeit ist das alles eine Menge Druck und Verantwortung, die auf einem einzelnen Menschen lasten und die alle nur allzugern ausblenden, weil sie sowieso schon daran gewöhnt sind. Für andere zumindest ist es gewöhnlich, normal.

Habe ich Angst vor Selbstwerdung? Will ich wirklich nicht ich selbst werden, oder ist es viel mehr, dass ich Angst habe, dass ich selbst die Kontrolle darüber verliere; mich verliere in etwas das ich nicht bin oder niemals sein kann. Oder letztendlich doch die Angst, dass die Panik mein Leben für mich lebt ; dass ich es einfach nicht schaffe; dass ich versage, ich selbst sein zu können.

Was soll ich mit all den fordernden Minuten anfangen, wenn heute alles richtig ist, aber morgen werde ich es vielleicht doch bereuen? Reue. Ich habe Angst vor Reue; das Gefühl, dass ich etwas getan habe, was ich selbst als verwerflich empfinde. Etwas, das andere auch als falsch empfinden könnten. Ich habe Angst vor Enttäuschung, dass mein Leben mich nicht erfüllen kann; dass ich es nicht füllen kann. Dass ich andere enttäusche. Und ich habe solche Angst vor morgen.

Und ich habe nur Angst, weil ich denke, dass ich es sollte. Warum sollte ich auch nicht, wenn ich doch eigentlich gar nichts weiß und sich alles, alles von grundauf morgen verändern kann? „Angst vor Veränderung". Wenn alles so unsicher ist, dass mir Klaviere auf den Kopf fallen könnten und jeder nur mit Fahrradhelm das Hausverlassen sollte, und ich michsowieso auf nichts verlassen kann, außer dass ich irgendwann sterben werde. So wie jeder andere auch. Ich bin gar nichts Besonderes.

Wie könnte ich auch, wenn ich endlich bin?

Und umso öfter ich mein Leben durchdenke, umso subsistanzloser fühle ich mich; unendlich nichtig zwischen den vielen andern Lebenden, die das gleiche Los gezogen haben wie ich. Und dieses Verloren-Sein macht mir Angst.

Ich lebe und ich empfinde; ich kann nicht aufhören zu denke und zu vergesse, dass es sinnlos ist, sich finden zu wollen, in einer Welt, die einem die Bürde auferlegt, sich selbst einen Sinn im Leben zu suchen. Und ja, ich versuche den Sinn zu sehen, versuche das Leben zu begreifen und zu analysieren, es zu verallgemeinern, wobei ich doch von vornherein schon weiß, dass ein solches Unterfangen zum Scheitern verdammt ist und mich deprimiert zurück lässt. So viel Unwissenheit, die auf den Menschen lasten und die sie nur allzugern ausblenden, weil sie sowieso schon daran gewöhnt sind, nichts zu verstehen. Aber es ist normal, denn in diesem Kampf sind wir alle auf der gleichen Seite. Auf der der Sterbenden. Aber was denkt sich ein einzelner schon dabei?

Denn ich bin konvertibel. Ich bin auswechselbar. Ich bin zwar nicht überflüssig aber auch nicht notwendig. Genauso wie Millionen andere. Wir sind Nebenfiguren, mit ihren Schwächen und Stärken, Lebenskrisen und Abenteuern. Aber ich darf nicht vergessen, dass wir Kleindarsteller sind. Ich bin eine stumme Person, geboren, um zu leben ohne Ewigkeit und ohne Bestand. Ausgesetzt dem Vergessen. So wie jeder andere Mensch, der diesen Planet bewohnt. Und dennoch macht es mir Angst, obwohl es normal sein sollte, oder?

Vielleicht sollte es das auch nicht, aber alles, das ich tun werde, ist weitermachen wie bisher, bis zu dem Tag an dem ich begreife, was ein simples Wort wie "Angst" mit einem Menschen machen kann.

Aber was fühle ich überhaupt? Ich fühle genau ausdiskutierte, menschlche Wissenschaft, die meinen Körper erklärt. Ich fühle die Ausschüttung von Adrenalin und den beschleunigten Herzschlag.

Ich denke, jeder normale Mensch hat Angst.

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Danke an meinen lieben Deutschlehrer (!), der die Dreistigkeit besaß, uns dazu zu verdonnern, einen kleinen Text über unsere Existenzkrise zu schreiben und dann meinen Arbeit nicht einmal eines Blickes gewürdigt hat...

I am a realist / os (deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt