Kapitel 8

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von: Scott Kent

an: Natalia Komenova

Betreff: Letzte Worte?

Datum: 11.10.2014

Natalia,

ich hoffe, Sie sind noch in der Verfassung, um diese Mail zu lesen und eventuell zu antworten.

Heute Morgen fand meine Frau unsere Tochter tot in ihrem Bett liegend. Meine Güte, ich dachte immer, ich hätte schon alle gesehen, aber noch nie war ich so fertig. Ich habe mein Kind getötet. Und ich werde auch meine Frau töten. Vielleicht morgen, vielleicht heute. Wenn einem diese Tatsache erst einmal bewusst wird, dann...

Ich finde gerade keine Worte.

Und ich weiß auch nicht, was ich noch sagen soll. Ich habe alles gesagt. Sicherlich haben Sie die Konferenzschaltung zwischen mir und dem Weißen Haus in Washington D.C. gesehen. Natürlich wird die ganze Sache so gedreht, als wäre ich der Bösewicht. Vielleicht bin ich das auch, aber es ist nicht allein meine Schuld. Oder?

Aber es ist sinnlos. Wer soll es den Menschen jetzt noch sagen? Die Zeitungen sind leer gefegt. Und selbst wenn es die noch lebende Bevölkerung erfahren würde, was hätten sie für einen Nutzen an dieser Information?

Natalia, ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Oder Ihnen. Deswegen würde ich mich gern schon einmal von Ihnen verabschieden.

Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen für Ihren Aufwand und ihre Unterstützung danken könnte, aber ich möchte Sie eins wissen lassen:

Ohne Sie wäre es viel schlimmer gekommen.

Wobei...wer kann schon sagen, wie schlimm es ist?

Ich bin nicht gut im Verabschieden.

Scott

*****

Mit einem Seufzen verlasse ich das Krankenhaus und spüre den kalten Luftzug an meinen Beinen, die von dem Mantel nicht bedeckt sind. Viktor steht an der Straße gegenüber mir und wartet auf mich. Er hat wieder diesen Blick auf seinem Gesicht, den ich gar nicht mehr ertragen kann. Alles in mir wehrt sich gegen diese Situation, schreit nach einer Lösung, will all das hier nur als Traum sehen und doch ist es die Realität. Ich lege meine Hand kurz auf meinen Bauch und blicke hoch zum Himmel. "Natya, kommst du?", ruft schließlich Vitya mich. Ich laufe nicht sofort los, sondern lasse mir die ganze Zeit der Welt. Schließlich darf man jetzt ruhig auch langsam sein, oder? Es ist nicht so, dass wir wirklich davon noch weg rennen können. 

Durch reine Gewohnheit blicke ich nach den Autos, bevor ich die Straße überquere. Erst als ich das Auto meines Mannes erreiche, erinnere ich mich, dass es einen Grund gibt, warum die ganze Straße wie leer gefegt ist. Während in anderen Städten die Bewohner für Demonstrationen und Aufruhr sorgen, verbarrikadieren sich alle Menschen hier in Volgograd in ihren eigenen Häusern. Sie alle haben solch eine Angst, betroffen zu werden. Nur das Problem ist, dass sie sich davor nicht verstecken können. Es ist in unserer Luft, die wir einatmen. Wir atmen, um zu überleben und doch ist es dann der Grund, warum wir sterben. 

"Wie geht es dir?", fragt Vitya leise und ich steige in das Auto hinein, in das er sich ebenfalls gesetzt hatte. "Besser." Mit einem Lächeln versuche ich ihn anzuschauen, aber er sieht den Schmerz in meinen Augen. "Todeszahlen?" Oh, warum fragt er mich das? Er soll es nicht wissen. Ich will es nicht mal wissen. Wenn ich es ausspreche, dann muss ich es als eine Tatsache ansehen. Trotz allem muss ich die Wahrheit aussprechen. "18", dabei wende ich meinen Blick von ihm ab, "18 unschuldige Menschen, vollkommenes Organversagen. Du hättest dir die Menschen anschauen sollen, ihre Körper... Es ist schrecklich." Er sagt nichts dazu. Er kann sich vorstellen, dass sich im Krankenhaus die reinste Hölle befindet.

"Schatz?" Ich drehe wieder meinen Kopf zu ihm. "Ja?", frage ich leise. 

"Wie wäre es, wenn wir weg fahren? Für die paar Tage?" Die uns noch bleiben. 

"Das geht nicht", seufze ich, "Man braucht mich hier." Das stellt ihn nicht zufrieden. "Ach ja? Und für was? Damit du ihnen unter die Nase reibst", auf einmal fängt er an zu brüllen, "dass du verdammte Scheiße Schuld an dem allem hier hast und es dir verdammte scheiße Leid tut?" Und ja, er hat sowas von Recht. Lachend schüttelte ich meinen Kopf und blicke aus dem Fenster. Hin und wieder sieht man ein paar Bäume, die zerfallen. Ihre Äste fallen zu Boden und der Baum scheint umzukippen. Eigentlich ist dieser schon Tod.

Wir schweigen für einige Zeit, so wie wir es immer tun, wenn Streit droht.  

"Vitya, wir können weglaufen und trotzdem sterben. Ich bleibe lieber hier und rede mit den Menschen, die schon im Sterben liegen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann."

"Aber denk doch mal an dich! Natya, wenn du die ganze Zeit bei ihnen bist, dann wird es dich noch schneller erwischen! Denk doch an unser Baby!"

Tränen schießen in meine Augen. Eigentlich will ich sie unterdrücken, aber ich sehe den wirklichen Grund dafür nicht. Ich lasse sie einfach frei, spüre dieses brennende Gefühl auf meinen Wangen und den salzigen Geschmack auf meiner Zunge. Es dauert nicht lange und ich fange an zu schluchzen. Immer lauter suche ich nach Luft, ziehe es so stark wie möglich ein. "Natya, bitte, weine nicht!", verzweifelt schaut er zu mir rüber und denkt nach, was er machen soll. Er bremst mitten auf der Straße und löst den Gurt. 

"Natya, bitte."

Ich kann nicht aufhören zu weinen. Alles in mir brennt. Es sucht nach Erlösung. Meine Finger vergraben sich in der Haut meines Bauches. Ich spüre solch eine Leere in mir. Als wäre mein ganzer Körper taub.

"Warum bist du nur so naiv?", sage ich unter Tränen und betrachte sein besorgtes Gesicht. Mehrmals schüttele ich meinen Kopf, will die Worte über meine Lippen nicht bringen. Aber es muss sein. Er verdient die Wahrheit. Ich erzähle doch immer die Wahrheit!

"Ich hatte heute im Krankenhaus einer Abtreibung zugestimmt. Der Termin ist in zwei Tagen, falls wir auch bis dahin überleben."

Seine Augen weiten sich und er öffnet den Mund, sagt aber nichts. Ich sehe den Schock in ihm. Wahrscheinlich denkt er daran, wie ich letztens versucht hatte, mein eigenes Kind zu ermorden. Das hier ist für ihn nichts anderes.

"Ich lasse nicht zu, dass mein Kind wegen so etwas stirbt. Ich will nicht, dass es ein Opfer wird." 

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