Der einzige Mensch

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Es war wieder einer dieser Abende gewesen an denen ihre Mutter Jessica, eine hochgewachsene, schmächtige, langhaarige Brünette mit hellbraunen, schmalen Augen, wieder einmal nach einem potenziellen Freund für ihre Tochter fragte. Außerdem erkundigte sie sich darüber, ob sich Christin, sie war schlank und dennoch üppig gebaut und hatte dunkelbraunes, hüftlanges Haar, endlich klar darüber geworden war, dass es Comicfiguren niemals in der Realität geben würde.

Christin hatte ihrer Mutter nur einen bösen Blick aus ihren sonst so sanften, rehbraunen Augen geschenkt und weiter zu Abend gegessen. Ihr Vater, ein kahlköpfiger, dicklicher, großer Mann mit dunkelbraunen Augen, hatte seiner Tochter nur bei dem Gespräch einen Seitenblick geschenkt und sich sonst zu dem Thema enthalten. Doch anstatt, dass ihre Mutter nach Christins bösen Blick den Mund hielt und aufhörte in dieser unglaublich brennenden Wunde zu stochern, machte Jessica fröhlich weiter und ließ ihre Tochter nicht nur ihre Belustigung darüber spüren, sondern auch ihre Verständnislosigkeit.

Es dauerte an diesem Abend daher nicht so lange wie gewöhnlich, bis Christin der Kragen platzte. Dabei erhob sie sich vom Stuhl erhob und schrie ihre Mutter erzürnt an. Was hatte sie ihr alles für böse und doch ehrliche Worte an den Kopf geworfen. Mit der Faust hatte sie sogar auf den Tisch gehauen, ihre Tränen unterdrückt und geschrien, dass ihre Mutter endlich akzeptieren sollte wie Christin war und dass sie im Grunde gar nichts anging, wem sie ihr Herz schenkte.

Pochen tat sie vor allem darauf, dass sie kein kleines Kind von fünf Jahren mehr war und selbst entscheiden konnte, wem ihre Liebe gehören sollte. Selbst wenn ihre Liebe eben der Comicfigur von Hergé, mit dem Namen Tim, gehörte dann war es eben so.

Christin hatte regelrecht am Tisch getobt, ehe sie ihre Mutter mit den Worten ‚Liebe mich wie ich bin oder lass mich einfach in Ruhe!' verabschiedete, ihrem Vater einen kleinen Kuss auf die Wange drückte und ihre Sachen schnappte, ehe sie vollkommen überstürzt zur Haustür hinauseilte.

Den Vorgarten durchquerte die 23-jährige raschen Schrittes zum Gartentor, zog sich ihre schwarze Stoffjacke dabei über, schulterte ihren kleinen, schwarzen Rucksack und zückte kurz darauf ihr weißes Smartphone. Augenblicklich rief sie die App ‚WahtsApp' ab und begann Lilly, eine schlanke, großbusige mit langen, blonden Haaren gesegnete und ozeanblauen Augen bestückte junge Frau Anfang zwanzig, den Vorfall beim wöchentlichen Besuch ihrer Eltern zu schildern.

Haargenau schrieb Christin was passiert war und dass ihr an diesem Abend einfach eine Sicherung durchgebrannt war. Lilly hatte versucht mit beschwichtigenden Worten auf sie einzuwirken, doch das half im Moment nicht so wie es sonst immer der Fall war. Viel zu aufgewühlt und wütend war Christin wegen des Geschehens gewesen, so dass sie sich im Moment auch gar nicht beruhigen wollte.

War doch heute zum ersten Mal all der Frust und die Wut über die Art und Weise, wie ihre Mutter sie dafür verspottete, hochgekommen. Zusammen mit der ewig wehrenden Sehnsucht nach Tim hatte dies ein Inferno ausgelöst. So bemerkte Christin auch nicht wie ihre Füße sie, ohne dass sie auch nur einmal von ihrem Smartphone und dem Gespräch mit ihrer besten Freundin aufschauen musste, nach Hause zu dem sechsstöckigen Wohnhaus brachten. Wo sie im dritten Stock ihre Zwei-Raum-Wohnung hatte. 


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In ihrer Wohnung angekommen hing sie ihren Rucksack an die buchenfarbige Garderobe und zog ihre Stoffjacke sowie ihre schwarzweißen Chucks aus, ehe sie mit zerknirschtem Blick durch ihren Flur zur Wohnzimmertür lief. Dort starrte sie hinein, ließ den Blick über ihr dunkelblaues Big Size Sofa gleiten und stoppte bei ihrem großen Flatscreen. Sie seufzte lautlos auf und wünschte sich ein weiteres Mal sehr wehmütig in der Welt von Hergé zu existieren und dort ein erfülltes Leben mit Tim und seinem weißen Fox Terrier Struppi zu führen.

Doch wie so oft stellte sie wieder fest, dass all diese Sehnsucht und der Herzenswunsch mit dem rothaarigen Reporter eine gemeinsame Zukunft zu haben niemals auch nur im Ansatz in Erfüllung gehen würde. Für immer und ewig würde Christin nur in ihren Träumen und ihrer Fantasie mit ihm zusammen sein können. Tränen bahnten sich den Weg aus ihren dunklen Augen und kullerten vereinzelt über ihre Wangen, während sie starr auf der Schwelle zu ihrem Wohnzimmer stand, den Boden ansah und ihren Gedanken, Sehnsüchten und der bitteren Realität nachhing.

Es war das Klingel ihres Festnetztelefons, das sie stark zusammenfahren und für den Moment mit entgeistertem Blick zum Telefon auf dem Wohnzimmertisch aus Glas sehen ließ. Nur einen Wimpernschlag später hatte sie sich von dem Schrecken erholt und war, sich die Tränen aus dem Gesicht wischend, zum Tisch gegangen. Prüfend nahm sie das schnurrlose, weiße Telefon in ihre Hand, sah aufs Display und las den Namen ihrer besten Freundin, woraufhin Christin tief durchatmete und das Gespräch entgegennahm. Mit dem Hörer am Ohr ließ sie sich schwerfällig auf ihr Sofa sacken, lehnte sich nach hinten und starrte an die Decke. „Hallo Lil."

„Hey meine Süße. Hast du dich etwas beruhigen können?", erkundigte sich Lilly mit ihrer ruhigen, sanften Stimme nach dem momentanen Gemütszustand ihrer Freundin. Diese schüttelte den Kopf, auch wenn ihr bewusst war, dass ihr Gegenüber das hätte unmöglich sehen können, und seufzte unzufrieden auf. „Еs geht. Ich bin immer noch stinksauer auf Mama. Ansonsten hatte ich kurz vor deinem Anruf das Heulen bekommen. So ungern ich es auch zugebe, aber Mama hat Recht. Tim wird nie und nimmer existieren. Er wird niemals meinen Namen kennen, noch wissen wer ich bin. Einzig und allein in meinen Träumen kann ich mit ihm zusammen sein und auch nur dort weiß er wer ich bin und wie ich heiße."

„Оch Schätzchen. Ich wünschte ich könnte dich gerade in den Arm nehmen und dir über den Kopf streicheln. Soll ich zu dir kommen? Ich bring ein bisschen Alkohol mit, dann mixen wir uns Cocktails und gucken uns einen Film an. Was sagst du dazu?", versuchte Lilly ihre beste Freundin zu erheitern und bot ihr sogar an rum zu kommen, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

„Danke, Liebes. Aber im Moment steht mir nicht der Sinn danach." Neuerlich seufzte Christin auf, strich sich eine Träne aus dem Gesicht und blickte stoisch auf einen Punkt an der Decke. „Außerdem was kann ich schon tun? Richtig, gar nichts. Ich kann weder Tim noch seinem Schöpfer Hergé eine Nachricht zukommen lassen. Einzig und allein Steven Spielberg oder Peter Jackson, ja sogar Jamie Bell, seinem jetzigen Schauspieler, könnte ich etwas schreiben und ihnen klar machen wie vernarrt ich in Tim bin. Doch was bringt das? Am Ende belächeln sie mich wie Mama, werfen mein Geschreibsel in den nächsten Mülleimer und stempeln mich als geisteskrank ab. Hergé hätte es etwas bedeutet, wenn er gewusst hätte wie sehr mich seine Schöpfung berührt, doch er wird es nie erfahren."

„Warum nicht?" Lillys Stimme klang irritier. „Weil er tot ist, Lil, weil Hergé tot ist und somit mir nur du bleibst. Du verstehst mich in dem Punkt wie kein anderer Mensch und du würdest mich deswegen nie verurteilen." In diesem Moment wurde ihr wieder einmal bewusst wie dankbar sie war Lilly ihre beste Freundin nennen zu dürfen. „Ich habe dich halt ganz doll lieb, Süße."

„Ich habe dich auch ganz doll lieb, Liebes." Diese Zuneigungsbekundung ließ Christins volle Lippen ein sanftmütiges Lächeln umspielen. Obendrein fühlte sie sich nun nicht mehr ganz so traurig, wie vor ein paar Minuten noch. „Was hast du nun vor?" Christin atmete auf diese Frage hin tief durch und blickte sich nachdenklich im Wohnzimmer um. „Ich mach so weiter wie vorher auch; Ich ignoriere den Schmerz, die bösen Worte und geh meinen Weg wie ich ihn immer gegangen bin. Auf jeden Fall nehme ich jetzt gleich erstmal ein Bad und geh dann ins Bett. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus."

„Оkay, dann hören wir uns Morgen wieder. Ich wünsch dir eine schöne und erholsame Nacht.", gab Lilly nun vergnügter von sich und wartete mit dem Auflegen bis Christin diese Worte auch etwas fröhlicher erwiderte. Das Telefon ließ sie anschließend neben sich sinken und starrte neuerlich einen längeren Moment an die Decke. Minuten später erhob sie sich erst von ihrem Sofa, um aus ihrem Schlafzimmer ihre schwarzen Leggings und ihr graues T-Shirt, das sie zum Schlafen immer trug, zu holen. Anschließend verschwand sie im Badezimmer und gönnte sich dort ein langes, angenehmes Schaumbad, bei dem sie etwas die Seele baumeln lassen konnte.

Christin nahm sich vor nach dem Bad direkt ins Bett zu gehen, da sie doch schon sehr müde war, aber bevor sie das tat wollte sie noch etwas das wohltuende Wasser genießen. So schloss sie zufrieden die Augen, rutschte etwas tiefer in die Wanne und lauschte der leisen Musik, die aus dem Badezimmerradio dudelte.

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Mit dir will ich gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt