Kapitel 1

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Es war erst drei Uhr morgens, als er aus dem Schlaf gerissen wurde. Da war ein Geräusch im Raum, welches ihn aufgeschreckt hatte. Es klang fast wie ein Schluchzen. Ein sehr leises, herzzerreißendes Schluchzen. Verschlafen setzte sich der junge Mann in seinem Bett auf, sah sich im dunklen Zimmer um und rieb sich durch die Augen. Es war wieder ruhig geworden... Das Schluchzen war verstummt. Im Halbschlaf, hatte er sich das Geräusch wahrscheinlich nur eingebildet. Oder es war bloß ein böser Traum gewesen.

Ein Gähnen verließ seine Lippen, während er sich wieder zurück, in sein Bett legte.

Doch gerade als er seine Augen wieder schließen wollte, hörte er es erneut. Dieses Mal noch lauter und deutlicher, als noch vor wenigen Sekunden. Und es schien näher zu sein als gerade. Als würde die Person, die so laut schluchzte, direkt neben seinem Bett in seinem Zimmer stehen. Energisch schüttelte er seinen Kopf und kniff seine Augen fester zusammen. Da ist niemand! sprach er sich gedanklich zu. Er halluzinierte wahrscheinlich bloß. Das musste der Schlafmangel der letzten Tage sein.

Als das Schluchzen erneut verschwand, war es für ihn eindeutig. Ein Traum. Er musste immer noch am Träumen sein oder sich zu mindestens noch im Halbschlaf befinden. Seine Gedanken schweiften ab und gerade als der Schlaf ihn übermannen wollte, war es wieder da. Ein Schniefen und Schluchzen und das Geräusch von Tropfen, die schwer auf den Parkettboden fielen.

Dieses Mal saß er augenblicklich kerzengerade im Bett, rieb sich mehrmals durch die Augen und sah sich erneut um. Sein Blick streifte das offene Fenster. Es war Sommer und draußen waren es sicherlich auch nachts noch 15 Grad, weshalb er das Fenster immer auch Nachts geöffnet hatte. Die weißen, dünnen Vorhänge wehten sachte im Wind und das Mondlicht schien schwach in den Raum. Er hatte wohl vergessen, die Jalousien zu schließen. Nicht dass es das erste Mal gewesen wäre. Beinahe wäre sein Blick am Fenster vorbei geglitten, doch dann sah er sie.

Die Silhouette einer jungen Frau, welche zwischen den wehenden Vorhängen in Calvins Zimmer stand. Ihr Rücken war ihm zugekehrt, ihre Schultern bebten, ihre langen Haare wehten im schwachen Wind. Sie weinte.

"Hallo?", fragte der junge Mann. Seine Stimme klang verschlafen und rau. Er hatte keine Ahnung, wer die Frau war, noch wie sie in sein Zimmer gekommen war. Denn dieses lag im dritten Stock, sie hatte also unmöglich durch sein Fenster einsteigen können.

Die junge Frau reagierte nicht. Stattdessen erklang erneut ein Schluchzen. Es war so silbrig, rein und dennoch so traurig und voller Leid, dass es Calvin kalt den Rücken herunter ran. Seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, während er sich erneut räusperte. Die Frau war dünn, nahe zu mager. So viel konnte er erkennen. Und sie war klein. Keine 1,70m groß. Sie trug ein Kleid, welches ihr bis zu den Knien hing und ebenfalls im Wind fein hin und her schwankte.

Doch erneut rührte sie keinen Muskel. Es war, als würde sie ihn nicht hören können. Vor ihr tropfte etwas zu Boden, als würde Wasser aus ihrer Kleidung rinnen. Eine kleine Pfütze hatte sich bereits auf dem Parkett gebildet. Für Wasser schien die Substanz, bei genauerem Hinsehen, allerdings zu dickflüssig und dunkel... Das fahle Licht ließ eine genauere Deduktion allerdings nicht zu. War sie eine Einbrecherin? Eine Diebin?

Langsam setzte Calvin seine nackten Füße auf den kalten Boden und drückte sich vorsichtig von seiner Bettkante hoch. "Wer sind Sie und wie sind Sie in mein Zimmer gekommen?"

Er wusste, seine Türe knarzte entsetzlich laut. Wäre sie also über diesen Weg in sein Zimmer gelangt, wäre er sicherlich früher wach geworden. Ein Schluchzen. Laut und voller Trauer. Calvin wurde mulmig zu Mute. Vielleicht war sie taub? Oder stumm? Oder beides?

"Tod." Es war ein Wispern. Schwach und leise. Calvin hatte es fast nicht gehört. Doch dieses eine Wort hatte ihm bereits gereicht, um verwirrt die Augenbrauen zu heben. Ihre Stimme war so voller Trauer, so fein und voller... Mitleid. Doch der Sinn hinter diesem einen Wort blieb Calvin unerklärlich. War sie eine Verrückte? Eine Wahnsinnige, die aus einer Anstalt entwischt war? Das Gut, auf dem seine Familie lebte, lag etwas abseits der nächsten Stadt. Warum also war sie genau hierhergekommen?

Langsam bewegte er sich in Richtung seiner Tür. Näher zu seinem Lichtschalter. Schauer rannen seinen Rücken herunter. Sie löste etwas in ihm aus, etwas was er in solchem Maß noch nie zuvor gespürt hatte. Angst. Kälte. Von ihr ging etwas aus, was in ihm das pure Unbehagen auslöste. Seine Finger fanden endlich den Lichtschalter. Er hatten den Blick nicht von ihr abwenden können. Er würde sich bald wünschen, dass er es getan hätte, denn als seine Finger den Schalter umlegten und Licht den Raum durchflutete, keuchte er voller Angst auf.

Das Licht offenbarte ein Mädchen, das nicht älter als achtzehn Jahre alt war mit schwarzem Haar und bleicher, nahezu tot wirkender Haut. Ihre Arme, Beine und Füße waren unbedeckt und nur ihr kurzes Kleid verdeckte das Nötigste. Es war weiß, oder war es wohl einmal gewesen. Nun war es zerfetzt und... blutig. Doch nicht nur das Kleid war voller Blut. Vor ihr auf dem Parkett war ebenfalls Blut. Sehr, sehr viel Blut und es wurde immer mehr. Es tropfte von ihr herunter, färbte die Enden der Vorhänge rot. Wunden konnte Calvin nicht ausmachen, doch genauer suchte er danach auch nicht. Zu grausam war das Bild, welches sich ihm bot.

Erst durch seine Handlung, das Licht einzuschalten, schien sie auf ihn aufmerksam geworden zu sein. Ihr Schluchzen wurde leiser und sie drehte sich langsam um. Der junge Mann hätte am liebsten geschrien, als er sie vollständige betrachten konnte. Vor Angst. Aus Sorge. Aus purer Panik heraus. Ihre Augen waren vom Weinen rot und verquollen und aus ihrer Nase und ihren Mundwinkel flossen feine Rinnsale Blut, welche bereits anfingen ihren Hals herunter zu fließen. Doch auch an ihren Armen und Beine lief es herunter und ihr Kleid war ebenfalls davon getränkt. Ihre Unterarme waren verkratzt, bedeckt mit Krusten der roten Substanz. Doch während er völlig entsetzt von ihrem Zustand war und sie voller Panik anstarrte, stand sie bloß dort und weinte. Dicke, große Tränen aus purem Blut.

Ein Traum, ein Traum, ein Traum... Es musste ein böser Traum sein!

Plötzlich fing sie an zu flackern, als sei sie eine Figur in einem kaputten Farbfernseher.

Einbildung! Das war pure Einbildung! Nein. Es MUSSTE pure Einbildung sein!

Calvin entwich ein Schrei. Ein erstickter, panischer Schrei.

Warum wachte ich nicht auf?! Aufwachen! Ich musste aufwachen!

Und dann löste sie sich auf, wie feiner Qualm oder Rauch im Wind und ließ den jungen Mann in seinem Zimmer zurück. Als wäre sie nie da gewesen.

Calvin hatte in dieser Sekunde noch keine Ahnung, was für drastische Folgen ihr Eintritt in sein Leben haben würde. Doch in diesem Moment war das Einzige, was von ihr blieb ihr Schluchzen, welches langsam im Raum zu verhallen schien und welches sich, unbemerkt in seinen Verstand brannte.

The Sorrow GirlWhere stories live. Discover now