Die Welt ist eine andere

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Insgeheim hatte ich befürchtet, sie würden mich bis auf den letzten Tropfen Blut aussaugen, trotz der Vegetariersache, aber sie ließen mich nach Hause fahren, als ich sagte, dass ich Zeit für mich bräuchte. Aber ich versprach ihnen, niemandem von dem Geheimnis zu erzählen. Ich musste es nur verdauen.

Zu Hause angekommen ging ich erstmal hoch in mein Zimmer und schob das Fenster auf. Die kühle Regenluft klärte zumindest ein bisschen meinen leicht schwummerigen Kopf. Ich beschloss, dass eine Tasse Kakao und die Extended Edition von Der Herr der Ringe Die Gefährten mich von dem ganzen Kram erstmal ablenken würden. Ich drehte mich gerade mit der nun gefüllten Tasse Kakao in der Hand vom Kühlschrank weg, als Jasper plötzlich vor mir stand, lässig mit verschränkten Armen an den Türrahmen zur Küche gelehnt. Vor Schreck fiel mir die Tasse runter. ,,Toll", jammerte ich und bückte mich, um die Scherben aufzusammeln, ,,Ich hab mir gerade erst einen Kakao gemacht. Wie kommst du hier überhaupt rein?" ,,Es tut mir leid, falls ich dich erschreckt habe", antwortete Jasper mit tiefenentspannter Stimme, ,,Ich bin durch dein Zimmerfenster rein gekommen. Ich dachte, ich sehe lieber mal nach, ob es dir gut geht. Du warst ziemlich verängstigt und auch verwirrt, als du gefahren bist." ,,Woher weißt du das so genau?", fragte ich und konnte meine Verwirrtheit wahrscheinlich nicht verbergen. ,,Ich kann die Gefühle anderer erkennen und sie auch manipulieren, wenn ich das möchte", erklärte er es mir, ,,Das ist meine Gabe. Nicht alle Vampire haben die gleiche Gabe. Alice kann zum Beispiel die Zukunft sehen. Und Edward kann Gedanken lesen." ,,Gedanken lesen?", fragte ich und konnte den leicht panischen Unterton nicht unterdrücken. ,,Keine Sorge, er spricht niemals über die belanglosen Gedanken anderer", meinte Jasper jedoch beruhigend und ich musste schmunzeln. Ich schob ihn gerade in die Akte der Coolen rein, als mir so eine beschissene Scherbe in der Hand stecken blieb, während ich die Scherben meiner wunderschönen Tasse in den Mülleimer fallen ließ. Ich zog sie einfach raus und stieß etwas entsetzt aus: ,,Leck mich am Arsch, das brennt wie Sau!" Schnell stellte ich das kalte Wasser im Spülbecken an und ließ es über meine Handfläche laufen. Es wollte einfach nicht aufhören zu bluten. Ich hörte, wie Jasper plötzlich scharf die Luft einsog und fragte: ,,Alles klar bei dir?" ,,Es ist nur...", presste er mühsam hervor und seine Augen glitzerten nicht mehr golden sondern fast schwarz. ,,Oh", ging mir dann das Licht auf. Ich nahm mir schnell ein sauberes Küchenhandtuch aus einer Schublade und wickelte es um meine Hand. ,,Tut mir leid", murmelte ich betreten. ,,Ist schon gut", erwiderte Jasper darauf und schien sich wieder etwas zu entspannen. ,,Wie lange bist du eigentlich schon auf der Bambi-Diät?", fragte ich einfach mal und hätte mich im nächsten Moment am liebsten selbst dafür geohrfeigt. ,,In etwa seit 1950 bin ich komplett umgestiegen", erzählte er dann, ,,Zwei Jahre, nachdem ich Alice kennen gelernt hatte. Sie hatte in einem Diner gesessen. Natürlich hatte sie mich kommen gesehen und sagte als erstes zu mir, dass ich zu spät sei. Sie hat mich zu jemand besserem verändert, als ich es war." ,,Kannst du mir mehr erzählen?", fragte ich und kam mir etwas dämlich vor, während ich mich am Küchentisch niederließ. Er setzte sich mir gegenüber hin und erzählte weiter: ,,Geboren bin ich am 14. Januar 1844. 1861 trat ich der konföderierten Armee bei, um im Bürgerkrieg zu kämpfen. Sie haben mir tatsächlich geglaubt, als ich sagte, ich sei 20. 1863 war ich schon einige Monate Major. Ich hatte den Auftrag, Galveston, eine Stadt in Texas, zu evakuieren. Da begegnete ich einer Unsterblichen. Maria. Sie stand dort mit zwei anderen Unsterblichen. Sie waren allein, ich dachte sie könnten Hilfe brauchen. Das war eine Fehleinschätzung. Maria verwandelte mich und ließ mich ihre Armee von Neugeborenen Vampiren trainieren. Es war auch meine Aufgabe, die überflüssigen zu beseitigen. Ich konnte alles fühlen, was sie fühlten. Es war furchtbar. Mein bester Freund Peter ist irgendwann geflohen, mit seiner Gefährtin Charlotte. Ich half ihnen, zu entkommen. Charlotte hätte sterben sollen. Maria wollte auch mich schließlich töten. Ich bin gegangen. Vielleicht war ich von Maria frei gekommen, doch ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wäre Alice nicht gewesen." ,,Wow", war alles, was ich erstmal nur raus brachte, ,,Ich hätte dich eher so auf Anfang 90 geschätzt." Er lachte leise und strich sich eine blonde Locke zurück hinters Ohr. ,,Aber erzähl doch mal etwas von dir", meinte er dann zu meiner Überraschung. ,,Naja", fing ich an, ,,Ich hab eine Zwillingsschwester. Sie lebt bei unserer Mutter in Phoenix. Mom ist mit Bella abgehauen, als wir zwei kaum laufen konnten. Ich wollte allerdings bei dad bleiben. Auch wenn ich dafür meinen Zwilling vielleicht verlieren würde. Ich verbringe jeden Sommer mindestens zwei Wochen bei mom, Bella und Phil. Moms neuer Ehemann. Er ist ein cooler Typ. Ansonsten war mein Leben bisher nicht sonderlich spannend. Keine Machtsüchtigen Exfreunde, die mich umbringen wollten, oder so. Ich spiel ganz gerne Baseball. Vielleicht werd ich doch nicht Psychologin, sondern Profi-Baseballer." ,,Du willst Psychologin werden?", fragte Jasper mich verblüfft. ,,Jap", erklärte ich, ,,Es ist nicht für jeden selbstverständlich, die Gefühle der Menschen zu verstehen. Ich finde das sehr interessant. Außerdem weiß ich, wie hilfreich es sein kann, mit jemandem zu reden, der zumindest ansatzweise versteht, was du fühlst. So ist das mit meiner Schwester. Ich kann mit ihr über alles reden. Ganz egal was. Sie würde mir auch sofort alles glauben, deshalb würde ich sie auch niemals anlügen. Und wenn sie mal etwas nicht wissen soll, dann verschweige ich es einfach. Das ist etwas anderes, als lügen." ,,Eine solche Beziehung ist nur zu bewundern", meinte Jasper grübelnd, ,,Die Verbindung zu einer Schwester ist etwas unvergleichliches." ,,Sehe ich auch so." ,,Ich gehe dann mal wieder", sagte Jasper und wollte aufstehen. ,,Du kannst gerne noch bleiben", erwiderte ich darauf, ,,Ich würd gerne ein paar Sachen fragen, die ich mich vorhin nicht getraut hatte, zu fragen. Zum Beispiel, verbrennen Vampire wirklich im Sonnenlicht? Und was ist mit Knoblauch oder einem Holzpflock ins Herz? Oder Weihwasser und Kreuze. Und vor allem will ich wissen, ob Vampire sich im Spiegel sehen können." Lachend setzte er sich wieder hin und antwortete: ,,Wir verbrennen nicht in der Sonne, wir glitzern wie ein Diamant. Essen tun wir sowieso nicht, also würden wir auch niemals Knoblauch essen. Genau wie wir auch niemals schlafen. Ein Holzpflock würde an unserer Brust nur zersplittern. Weihwasser und Kreuze sind nur ein Mythos, genau wie die Sache mit den Spiegeln." Wir redeten noch eine ganze Weile so weiter und mit jeder Sekunde und jedem Wort wurde ich mehr und mehr erleichtert. Langsam wurde selbst das absurde normal. 

Elisa Swan AliveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt