Ein Fässchen Tinte und ein Anfang

20 2 1
                                    

Feline Collingwood saß angespannt vor einem Stapel mit leerem Papier. Vor ihrem Fenster zog der Wind heulend vorbei und Regentropfen trommelten rhythmisch dagegen. Normalerweise störte sie dieses Geräusch nicht, teilweise genoss sie es sogar, nur an diesem Abend wäre etwas Ruhe schön gewesen. Den Füllfederhalter in ihrer Hand umklammerte sie seit einer Ewigkeit so fest, dass ihre Finger langsam schmerzten. Aber egal wie viele Stunden sie nur dasaß und nachdachte, es kamen einfach keine Ideen. Stöhnend ließ sie ihren Kopf auf die Platte ihres Schreibtisches fallen, woraufhin das Fässchen Tinte am Rand umkippte und sich über ihr Haar bis hinunter zu ihrer schneeweißen Bluse ergoss. Fluchend sprang sie auf. Ihre Mutter würde sie umbringen! Mit einem leisen Seufzer schnappte sie sich ihr aus Stoff gefertigtes Taschentuch und versuchte, zumindest ein bisschen Schaden zu beheben. Was die Tinte nicht daran gehindert hatte, von ihrem Haar bis in ihr Gesicht zu tropfen. Wenn ihr kleiner Bruder sie so sehen könnte, würde er schreiend davonlaufen. Sie wusch sich rasch das Gesicht und fuhr sich mit ihrem Kamm durch die Haare. Diese ließen sich auch ohne Tinte kaum bändigen. Als sie in alle Richtungen abstanden, gab sie schließlich auf. Sie wechselte noch ihre Bluse und ließ die fleckige unter ihrem Bett verschwinden. Mit etwas Glück fand sie niemand, bis sie irgendwo eine besorgt hatte, die genauso aussah. Als auch ihr Schreibtisch geputzt war, warf sie den mit Flecken übersäten Lappen in eine leere Schublade und ging nach unten. Das Holz der breiten Treppe knarzte vertraut unter ihren Füßen, während sie langsam ins Foyer runterschlich. Es war schon spät und wenn es nach ihren Eltern ginge, sollte sie längst schlafen. Aber sie hatte den ganzen Abend mit dem Suchen nach Ideen verbracht und ihr knurrender Magen sprach Bände. Erleichtert stellte sie fest, dass in der Küche noch Licht brannte. Die Köchin, Mrs. Pomeroy, und das Dienstmädchen Wendy saßen zusammen an dem kleinen Holztisch, der in der Ecke stand und lachten. Als Feline die Küche betrat, verstummten sie.
"Alles in Ordnung, Miss?", fragte Wendy.
Sie war etwas jünger als Feline, vielleicht sechzehn oder siebzehn und hatte ihre roten Locken stets unter einer weißen Haube verborgen. Ihre zierliche Gestalt fiel bei der weiten Dienstbekleidung kaum auf, was allerdings nicht so manche Männer davon abhielt, sich nach ihr umzudrehen. Mrs. Pomeroy war eher das genaue Gegenteil. Die etwas ältere Dame war selbst größer als Feline und hatte stämmige Hüften, die wohl von dem Probieren ihrer Gerichte herrührten. Ihr schwarzes Haar mischte sich mit einigen grauen Strähnen, die immer zu einem festen Zopf zusammengebunden waren. Ihre stahlgrauen Augen musterten Feline neugierig, obwohl sie vermutlich wusste, warum sie um diese Zeit in die Küche schlich.
"Ist vielleicht noch etwas von dem Abendessen übrig?", erkundigte Feline sich zögerlich.
Sie müsste als die Tochter des Hausherren eigentlich nicht darum bitten, aber zwischen ihr und dem Personal gab einen unausgesprochenen Pakt. Sie erzählte niemandem, dass sich das Personal so wie heute gerne noch nach Dienstende in der Küche traf, um gemeinsam zu lachen und manchmal auch zu trinken. Dafür verriet keiner ihren Eltern, dass sie oft mitten in der Nacht sich etwas zu essen holte oder in die kleine Bibliothek schlich. Mrs. Pomeroy nickte lächelnd.
"Natürlich, heute ist viel Eintopf übrig geblieben. Setz dich ruhig, mein Kind."
Feline erwiderte ihr Lächeln. Die Köchin nannte sie schon mein Kind solange sie denken konnte. Sie hatte Mrs. Pomeroy schon als kleines Mädchen ins Herz geschlossen und konnte sich nicht vorstellen wie es wäre, wenn sie einmal nicht mehr hinter dem Herd stehen und ihre unverwechselbaren Vanilleplätzchen backen würde.
"Haben Sie wieder so lange gearbeitet, Miss?"
Feline ließ sich neben Wendy fallen und nickte.
"Nur ist dabei nichts herausgekommen."
Wendys Augen leuchteten in einem hellen Grün, als sie zuversichtlich schmunzelte.
"Irgendwann wird ein Buch von ihnen bei Mr. Crane im Schaufenster stehen, da bin ich mir sicher."
Feline sah sie verwirrt an. Von diesem Buchhändler hatte sie noch nie gehört.
"Mr. Crane?"
Wendy legte den Kopf schief. Sie teilte Felines Liebe zu Geschichten zwar nicht, aber dafür ihre kranke Mutter, für die sie oft Bücher in der Stadt besorgte. Darum kannte sie jeden einzelnen Laden und dessen Standort auswendig.
"Ja, Charles Crane. Sein Geschäft befindet sich in der Nähe des Highgate Cemetery. In der Swain's Lane. Möchten Sie mich morgen früh vielleicht dorthin begleiten? Die Herrschaften waren so nett und haben mir den Vormittag freigegeben."
Die Aussicht darauf, einen Vormittag außerhalb der Mauern ihres Elternhauses zu verbringen kam Feline einem Wunder gleich. Sie nickte heftig.
"Danke für die Einladung. Ich komme sehr gerne mit. Wie geht es eigentlich deiner Mutter? Entschuldige, dass ich erst jetzt frage."
Mrs. Pomeroy stellte einen dampfenden Teller und einen Löffel vor ihr ab. Feline bedankte sich und wandte sich wieder Wendy zu. Deren Ausdruck verdunkelte sich.
"Der Husten wird schlimmer. Aber sie hat kein Fieber. Der Arzt meint, wenn sie weiterhin den Tee trinkt, dürfte sie keines mehr bekommen."
Wendy bemühte sich um ein Lächeln, doch Feline wusste, dass es ausgesetzt war. Über die Jahre hatte Wendy viele solcher Versprechen gehört und inzwischen quälte sich ihre Mutter mit ständigen Grippen und einem unablässigen Husten, seit Wendy elf war. Feline wünschte sich, ihre Eltern würden Wendy besser bezahlen, aber ihr Vater hatte ihr ein einziges Mal mehr als deutlich gemacht, dass sie sich nicht die Personalangelegenheiten einmischen sollte. Feline gab keine Antwort und nahm vorsichtig einen Löffel von dem Eintopf. Wie immer schmeckte es wunderbar. Mrs. Pomeroy grinste stolz, als sie Felines Ausdruck sah und lehnte sich zurück.
"Es wird langsam spät, Mädchen. Wendy, du solltest dich ausschlafen. Willst du heute in der freien Kammer bleiben? Es ist schon dunkel draußen."
Das Dienstmädchen winkte ab.
"Ich gehe oft spät nach Hause, wie du weißt. Mach dir keine Sorgen."
Sie griff nach ihrem einfachen Wollmantel, der um den Stuhl gehängt wartete.
Sie neigte kurz den Kopf in Felines Richtung. "Miss Collingwood, einen angenehmen Abend. Kate, bis morgen früh."
Als sie im Foyer und durch die Haustür verschwunden war, sah Feline besorgt zu Mrs. Pomeroy.
"Glauben Sie, Wendys Mutter geht es jemals besser? Oder dass mein Vater ihr zumindest mehr Gehalt gibt?"
Mrs. Pomeroy lächelte leicht.
"Ich weiß es leider nicht. Aber in einem Monat ist Weihnachten. Vielleicht gibt uns dein Vater da einen Bonus."
Es klang nicht nach einer Frage oder eine Bitte an Feline gewandt, ihren Vater darauf anzusprechen. Mrs. Pomeroy behandelte Feline selten wie die Tochter des Hauses. Eher wie ein Mädchen, dass sie seit jungem Alter kannte und mochte. Und dafür war Feline ihr mehr als dankbar. Sie ertrug das arrogante Verhalten ihrer Eltern kaum. Bei jeder Gelegenheit mussten sie zur Geltung bringen, wie vermögend die Collingwoods waren. Nachdenklich leerte sie ihren Teller und stand auf.
"Danke für das Essen. Ich glaube, ich gehe auch langsam ins Bett."
Als sie wie zur Bestätigung gähnen musste, lachte die alte Köchin leise und räumte das Geschirr weg.
"Eine hervorragende Idee, mein Kind. Schlaf gut."
"Sie auch."
Oben in ihrem Zimmer starrte Feline noch eine Weile die Decke an. Der Sturm wütete weiterhin draußen, aber er störte sie nicht mehr. Obwohl sie einer der wenigen Familien in London waren, die überall im Haus elektrisches Licht besaßen, hatte sie stets eine Kerze in ihrem Zimmer. Sie stand auf dem Nachtisch und ihr Schein wärmte ihr Gesicht auf angenehme Weise. Sie dachte über die Geschichte nach, die sie schon so lange zu schreiben versuchte. Sie wusste nicht mal, worum es darin gehen sollte. Nur, dass sie unbedingt schreiben wollte. Als die Kerze bereits heruntergebrannt war und eine geräuschlose Dunkelheit sich wie ein großes Tuch über ihr Zimmer ausbreitete, schloss Feline die Augen und drehte sich zur Seite. Im Halbschlaf schwirrten ihr wie immer viele Worte, die sie hätte schreiben können. In dieser Nacht war es anders. Als ihre Gedanken ihr bereits mitteilen wollten, dass eine Veränderung auf sie zukam, hörte sie eine innere Stimme flüstern.
Eine stürmische Nacht war der Anfang dieser einzigartigen Geschichte...

Das verborgene Archiv Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt