Markus

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10:38 Uhr
Der Unterricht zieht sich heute stark in die Länge. In Mathe geht es um Kurvendiskussion. Langweiliger geht's nicht. Ich verstehe es nicht, aber das ist mir egal, wer braucht schon Mathe. Markus fehlt heute das dritte Mal in der Woche. Er wurde in letzter Zeit auch immer ruhiger und verhielt sich komisch. Er passte im Unterricht kein bisschen mehr auf und hat deswegen auch schon einen Verweis bekommen. Hat ihn nicht interessiert.

Seine Eltern wissen nicht, dass er Zuhause ist. Er sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt sich seinen Plan zusammen. Er hat schon alles, was er braucht. Geübt hat er auch schon. Im Wald hinter seinem Dorf. Hat keiner mitbekommen, nicht seine Eltern, nicht der Förster, keiner.

12:23 Uhr
Wir haben Mittagspause bis 13 Uhr. Ich gehe zusammen mit Lea in die Cafeteria. Heute gibt es Lasagne. Markus Lieblingsessen. Oder eher das einzige, was er in letzter Zeit noch gegessen hat. Er hat nicht mehr viel gegessen, seit er so zurückhaltend wurde. Manchmal frage ich mich, ob ich mit Markus darüber reden sollte, aber ich hab's bis jetzt noch nicht gemacht. Weiß nicht warum. Lea und ich holen uns die Lasagne ab und kaufen uns noch Cola dazu.

Trauer hat ihn übernommen. Er weint nun seit einer halben Stunde, er sieht sich alte Fotos an. Von seiner Familie, von seiner Klasse und von seiner Ex-Freundin. Bald ist es soweit. Er packt seinen Rucksack und durchdenkt nochmal seinen Plan. Es darf nichts schieflaufen.

13:16 Uhr
Die Mittagspause ist vorbei. Wir haben Physik. Eines der wenigen Fächer, die mir gefallen. Ich beobachte gespannt dem Unterricht, wie Herr Haufer uns erklärt, wie Aerodynamik funktioniert und warum es wichtig ist. Viele aus meiner Klasse finden Physik langweilig, aber ich nicht. Markus mochte Physik auch. Viele mögen Markus nicht. Als er neu in die Schule kam, wurde er sofort zum Mobbingopfer. Er hatte auch viel Stress bei sich Zuhause und als sich seine Freundin von ihm trennte, ging's ihm richtig mies. Ab da wurde er so still, stiller als er sonst schon war. Viele interessierten sich nicht dafür, er wurde zwar nicht mehr so stark gemobbt (viele bekamen einen Verweis dafür und ein Schüler flog von der Schule), aber ignoriert. Er blieb immer häufiger Zuhause.

Er steht vor der Schule. Er atmet tief ein und aus. Und schreibt seiner Ex, dass er sie liebt. Er geht in das Schulhaus. Nimmt sich aus seinem Rucksack die M16 seines Vaters. Ladet nach. Und stellt sich vor die Türe seines Klassenzimmers.

Plötzlich hört man einen lauten Knall. Herr Haufer stürzt zu Boden, er hustet Blut. Er hat einen Schuss in die Magenregion abbekommen.

Er öffnet die Türe und sieht die Schüler und Schülerinnen kurz an. Dann schießt er sein Magazin leer.

Ich liege auf dem Boden, direkt neben Leas Leiche, und versuche mich tot zu stellen. Es funktioniert. Markus geht in die anderen Klassenräume. Ich höre Schüsse. Panische Schreie. Den Feueralarm.

Er schießt wild in die Menge. Seine Mobber exekutiert er mit einem gezielten Kopfschuss. Er hat alle getroffen. Und geht zum nächsten Klassenzimmer. Im Flur sind auch schon Menschen. Er holt sich seine Pumpgun aus dem Rucksack.

Die Schüsse werden lauter. Ich vermute eine Schrotflinte und muss an die leidenden Lehrer und Schüler denken. Ich öffne langsam meine Augen um zu sehen, ab noch mehr überlebt haben. Herr Haufer röchelt zwar noch, aber nicht mehr lange.

Er hört viele Schreie. Zuerst wegen ihm, dann wegen den Verletzungen. Seine Schule ist klein, ihm fehlen nicht mehr viele Räume.

Ich muss mich konzentrieren, um nicht sofort in Panik zu verfallen. Herr Haufer gibt keinen Ton mehr von sich. Ich höre Polizeisirenen in der Ferne. Und schmecke das Blut meiner Klasse an meinen Lippen.

Der letzte Raum. Er hat keine Munition mehr, deswegen greift er zum Messer. Viele weinen und manche beten. Sie wissen alle, wie es ihnen gleich ergehen wird.

Ich wage es aufzustehen, da ich keine Schüsse mehr gehört habe. Ich sehe vorsichtig in den Flur. Ich kann Markus nicht sehen. Aber ich höre ihn im Klassenzimmer nebenan weinen hören.

Markus greift nun zu seiner einzigen Granate. Er zieht die Sicherung aus der Granate, und lässt sie vor sich los.

Das Letzte was ich gespürt habe sind Mauerstücke, die auf mich gefallen sind. Dann wurde es schwarz.

13:40 Uhr
Die Polizei kommt zu spät. Es gibt keine Überlebenden. Das Schulhaus ist zudem massiv beschädigt. Von den Einschusslöchern und der Explosion. Spätestens um 15:00 Uhr werden die Eltern das traurige Schicksal ihrer Kinder mitgeteilt bekommen. Gegen die Eltern von Markus wird wahrscheinlich ein Verfahren wegen unzureichender Sicherung des Waffenschranks eingeleitet. Und ich hatte heute meinen letzten Schultag. Für immer.

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