1 Auf Leben und Tod

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Ein Gemurmel weckte Karin langsam auf. Ihre Augenlider fühlten sich viel zu schwer an, um die Augen aufzumachen. Sie wollte sich umdrehen, um wacher zu werden; es funktionierte nicht, sie konnte sich nicht bewegen. Sie war dabei wieder einzuschlafen, als jemand laut und vernehmlich niesen musste. 

Erneut versuchte sie, sich umzudrehen, aber sie brachte nur ein paar matte Bewegungen zustande, die an ihrer Lage nichts Wesentliches änderten. Stattdessen verspürte sie einen jähen Schmerz in ihrer linken Seite, was ihr ein leises Stöhnen entlockte. 

»Sie wacht auf!« 

Diese Stimme kannte sie von irgendwoher. Im Geiste sah sie plötzlich das Gesicht einer jungen Frau vor sich, bestimmt nicht älter als sie selbst – und sie hatte gerade erst ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert – mit auffallend intensiv grünen Augen. Solche Augen hatte Karin bisher nur einmal gesehen: Bei einer Geburtstagsfeier einer Schulfreundin; deren Cousine hatte solche grüne Augen gehabt. Zuerst hatten alle geglaubt, sie trüge Kontaktlinsen, aber es war ihre eigene Augenfarbe gewesen. Die Cousine ihrer Freundin hatte jedoch kastanienbraune Haare gehabt, einen Farbton, den Karin bis dahin auch nur als gefärbte Variante gekannt hatte, doch auch die Haarfarbe war natürlich gewesen. Das Gesicht, das sie jetzt vor sich sah, wurde hingegen von einer pechschwarzen Lockenmähne umrahmt.

 »Das wäre gut. Vielleicht schafft sie es ja«, ließ sich eine andere, etwas tiefer klingende Stimme hinter ihrem Rücken vernehmen und riss sie aus ihren Überlegungen. Auch diese Stimme hörte sie nicht zum ersten Mal. Karin nahm ihre ganze Kraft zusammen und schaffte es tatsächlich, sich von der rechten Seite, auf der sie lag, auf den Rücken zu drehen. Wieder dieser Schmerz in der linken Seite. 

»Sie ist wirklich wach.« Jemand setzte sich neben sie. Endlich gelang es ihr, die Augen einen Spalt breit zu öffnen. Alles war leicht verschwommen, den jungen Mann, der neben ihr auf der Bettkante saß, konnte sie jedoch erkennen. Er hatte ebensolche auffällige, grüne Augen wie die junge Frau und ebenfalls schwarze Haare; seine waren nur leicht gewellt und höchstens fingerlang. Auch ihn meinte Karin, vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gesehen zu haben. Aber wo? Was war mit ihr passiert? 

Ihr Blick fiel auf das dünne Etwas, das aus ihrer Seite ragte. Sie starrte darauf, ohne zu begreifen. Dann kam die Erinnerung so plötzlich wie ein Blitzschlag über sie. Sie atmete heftig ein und – plötzlich um einiges wacher – versuchte sich aufzusetzen.
 Auf halber Strecke verließen sie ihre Kräfte und sie sank, von einem stechenden Schmerz in ihrer linken Seite begleitet, wieder zurück. Schlimmer noch: Jetzt konnte sie sich überhaupt nicht mehr bewegen; nicht einmal die Finger konnte sie rühren.

 »Was ist los mit mir?«, nuschelte sie undeutlich. Selbst das Sprechen funktionierte nicht richtig. »Schscht! Nicht reden!«, befahl die junge Frau, die herübergekommen war. Karin erkannte das Gesicht aus ihrer Erinnerung. »Versuch dich nicht zu bewegen und sag nichts! Du bist von einem Lichtpfeil getroffen worden.«

Lichtpfeil? Waren das diese weiß leuchtenden Lichtblitze gewesen, die auf sie abgeschossen worden waren? Sie waren auseinandergelaufen wie eine Schar aufgescheuchter Hühner. – Aber einer nach dem anderen war zusammengebrochen. Sie sah das Gesicht von Rudi vor sich – keine zwei Meter von ihr entfernt war er der Länge nach im Schnee gelegen, den Kopf zu ihr hingedreht und seine weit geöffneten Augen schienen sie anzustarren. Immerzu. Kein Blinzeln. Keine Tränen. Sie hatte zurückgestarrt – lange. Und erst als das Inferno aus heißem Wasser und schmelzendem Schnee über sie hereingebrochen war, erst als das Wasser über Rudis Gesicht und seine Augen gelaufen war, hatte sie wirklich begriffen, dass Rudi tot war, mausetot. Der Schnee–Wasser–Strom war über ihn hinweg gegangen und hatte ihn schließlich etliche Meter weit mitgerissen. Dann war der Strom versiegt.

Die Drachenreiter von Mera Bd.1 Entscheidung in Elnamira (Leseprobe)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt