51. Ein Puzzleteil fürs Mysterium

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Lyff setzte erneut die Flasche an und trank sie auf einen Zug leer. Die ganze Zeit schon ruhte ihre Hand auf Amandas Rücken. Die ließ es sich gefallen, noch immer, also musste mit Lyff wirklich alles in Ordnung sein. Zu Sicherheit schielte ich zur geschlossenen Schlafzimmertür hinüber. Mein Blick wanderte zum Schlüsselloch, von dort zum Luftschlitz unter der Tür. Kein orangerotes Leuchten, kein Glüh-Scheck, der mich beschützen kam. Alles gut. Ich entspannte mich wieder. Lyff begann wieder zu plappern.
„Meine Oma sagt, dass mein Opa den Krieg nur deshalb überlebt hat, weil er einen Doppelgänger beschworen hat, der für ihn an der Front kämpfte, während er selbst seinen Siebensachen packte und mit dem Zug zu seiner Familie nach Hause fuhr."
Mit Entsetzen musste ich feststellen, dass sich während Lyffs Bericht mein Mund geöffnet hatte und Speichel auf meinen Oberschenkel tropfte. Ich konnte nichts anderes tun, als Lyff anzustarren. Sie starrte zurück.
„Was glotzt du denn so? Ist dir nicht gut?"
Ich klappte den Mund wieder zu und wischte mir den Mundwinkel sauber. Einmal mit der Hand über die Hose und auch der Spuckefleck war verschwunden.
„Ich bin baff!"
„Wegen meines Opas?"
„Ganz genau!"

Wenn Lyffs Geschichte stimmte, dann war es wohl alles andere als ein Zufall, dass mein Nachbar in der Lage war, ein zweites Leben als Feuergeist zu führen. Er hatte lang genug okkulte Praktiken ausgeführt, hatte lang genug Kontakt zum Jenseits aufbauen und pflegen können, und sich einen Platz als Unsterblicher zu sichern. Auf sowas musste man erstmal kommen! Hausmeister Scheck aus Grubenhagen löst das Geheimnis der Unsterblichkeit. Unglaublich! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass Scheck auch eine dunkle Seite besessen hat. So kann man sich in seinen Mitmenschen täuschen!
Ich sah hinüber zur Küchenuhr. Es war bereits vier. Die kleine Göre hatte mich vollkommen aus dem Konzept gebracht, so sehr, dass ich zwischenzeitlich meine Reisetaschen im Flur, den Bulli und mein Vorhaben vergessen hatte. Allmählich musste ich Lyff loswerden, ich hatte schon viel zu lange hier rumgesessen. Ich wollte endlich aufbrechen!

„War mir eine Freude, dich kennengelernt zu haben. Ich hoffe, die Limo hat dir geschmeckt, aber ich muss dir leider sagen, dass ich heute noch dringende Termine habe!"
Lyff zog die Augenbrauen hoch, ließ die rechte wieder sinken und die linke oben stehen. Wie machten die das alle nur?

„Kannst du mir das beibringen?"
„Was?"
„Das mit den Augenbrauen."
Ich zeigte in Richtung ihres Haaransatzes.
„Klar! Wenn du mir die Wahrheit sagst!"
„Ich lüge nicht. Nie!"
„Oma sagt, du bist im Copyladen rausgeflogen und hast keinen Job. Sie hat dir was besorgt, weil du was gut hast bei ihr. Hat sie gesagt!"

Für einen ganz kurzen, naiven Moment dachte ich wirklich daran, ihr von meinem Auftrag zu erzählen. Von Lisbeth Schlesinger, der Schwester, die mit einem Waldgeist durchgebrannt war, doch besann ich mich eines besseren.

„Ich muss weg. Und gut."
„Du MUSST?"
„Ich MUSS und ich WILL!"
Lyff dachte nach.
„Der Bulli auf dem Hof, ist das deiner?"
„Ist geliehen."
„Mit dem fährst du also weg?"
„Korrekt, junge Dame!"
Ich stand auf, nahm ihr die leere Flasche aus der Hand und brachte sie in die Küche.
„Ich will mit!"
„Geht nicht!"
„Warum nicht?"

Okay Lupo, einmal tief durchatmen. Ganz freundlich bleiben!
„Weil ich nicht zum Vergnügen wegfahre. Ich habe einen Job zu erledigen, einen ziemlich gefährlichen Job."
Den letzten Teil des Satzes hätte ich mir verkneifen sollen. Lyff hörte auf, an Amanda herumzufummeln. Kerzengerade saß sie auf dem Sofa und plinkerte mich mit riesengroßen Welpenaugen an.
„Bitte, lieber Lupo!"
„Geht leider nicht!"
„Ich zeige dir dann auch das mit den Augenbrauen!"
„Deine Oma würde sich zu Tode ängstigen! Bau mir lieber was Schönes aus Metall, dein Opa hat doch die tolle Werkstatt, und wenn ich zurückkomme, dann ..."
Es klingelte an der Tür. Ich stieg über meinen Taschenberg und öffnete. Es war Frau Scheck. Sie streckte mir einen prächtigen Gugelhupf entgegen, sicher verwahrt in einer Tortenhaube aus Plastik.
„Wegzehrung für die Fahrt. Man weiß ja nie!"
Sie zwinkerte vieldeutig und zeigte mit ihrem mageren Finger in Richtung des Waldes, der irgendwo hinter diesen Wänden, diesen Häusern, diesen Straßen, dieser Stadt auf mich wartete. Die Vorstellung, dass Lisbeth Schlesinger dort oben zwischen Fichten, Kiefern und Buchen, auf weichem Moos gebettet mit einem Waldwesen süße Dinge trieb, erschien mir völlig absurd, gleichzeitig riefen diese inneren Bilder ein tiefes Unbehagen in mir hervor und ließen mich frösteln.

Frau Scheck steckte ihren Kopf in den Flur.
„Schon alles gepackt? Wann geht's los? Scheint sich ja doch um 'ne größere Sache zu handeln! Doro ist sehr überzeugt von Ihnen, Herr Scholz! Sie werden ihre Schwester finden, da bin ich mir ganz sicher! Bereiten Sie mir keine Schande!"
Sie lachte heiser.
„Lyff? Ist sie bei Ihnen?"

Ich trat zur Seite und bat Frau Scholz herein. Im Storchenschritt stakste sie über die Taschen, nicht ohne sie dabei neugierig zu inspizieren.
„Lyff! Mein Fräulein, Abmarsch, aber subito! Hast Herrn Scholz genug Zeit gestohlen!"

Das fand ich nun doch etwas zu hart.
„Hat sie nicht, hat sie nicht! Alles gut! Hat was getrunken, die Katze gestreichelt. Alles prima!"
Die übliche Floskel, die in solchen Momenten gern gebraucht wurde, dass sie nämlich ein nettes Mädchen sei und jederzeit gern wiederkommen könne, schluckte ich hinunter. Mit allem hätte ich gerechnet, nur nicht damit, dass Lyff ohne Knurren und Murren dem Ruf ihrer Oma folgen würde. Wortlos schlich sie an mir vorbei und folgte ihrer Oma ins Treppenhaus, nicht ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen.
„Geile Bude, Lupo! Bis später!"
Ich hörte, wie Frau Scheck sie für diese Worte tadelte, dass sich das für eine junge Dame nicht gehörte, dann fiel die Tür der Scheckschen Wohnung ins Schloss.

Was war das gewesen? Zu viel Verrücktes war in den vergangenen Tagen und Wochen passiert, als dass ich noch an Zufälle glaubte. Lyff, Schecks Enkelin war mir erschienen und hatte ein weiteres Puzzleteilchen zum großen Grubenhagen-Mysterium hinzugefügt. Ein Geister und Doppelgänger beschwörender Hausmeister. Wieviel hatte Frau Scheck vom grenzwertigen Hobby ihres Mannes gewusst? Viel konnte das nicht gewesen sein, sonst wäre sie beim Erscheinen des Gespenstes in ihrer Küche nicht so aus dem Häuschen gewesen.

Ich verschob die Klärung dieser Frage auf später, verschloss alle Fenster meiner Wohnung, löschte das Licht und schleppte meine Taschen auf den Hof, wo ich sie zusammen mit den anderen Campingsachen aus der Werkstatt im Inneren des Bullis verstaute. Ich fand noch einen Stapel Decken, die mir nachts sicherlich nützlich sein würden, ebenso einen Klappspaten und zwei Taschenlampen. Zurück in der Wohnung klemmte ich mir den Katzenkorb unter den Arm, griff nach Wasser- und Futternapf und dem Sack mit den Katzenleckerlis. Frau Schecks Gugelhupf balancierte ich auf dem freien Arm. Amanda erteilte ich den Befehl, mir zu folgen. Dann verließ ich die Wohnung, wie ich hoffte für eine lange, lange Zeit, in der sich in Grubenhagen alles von alleine wieder geradebog, alles wieder gut wurde, so friedlich und schön wie in früheren Zeiten, als ich noch ein Embryo war.

Lupo Scholz dreht auf (Fantasy/Humor)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt