Die Grausamkeit der Intoleranz

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Der Schnee verdichtete die Sicht auf alles andere. Nur mehr die Forte konnte man lediglich erahnen, ebenso wie den Schuppen der nicht all zu weit entfernt vom Zaun stand.
Der ganze Rasen war überdeckt worden, kein einziger Grashalm schaute aus der dicken Schneedecke heraus und nur ab und zu konnte man ein paar Abdrücke von Vögeln sehen.
Nur wenn man genau hinsah, konnte man ein paar Leute sehen. Immer mal wieder kamen welche vorbei und gingen zusammen spazieren, unterhielten sich und schienen glücklich zu sein.
Es war bereits Abend und die Landschaft draußen auf den Feldern oder in dem kleinen Dorf musste wunderschön sein, doch nur wenn man dort nicht alleine lang lief. Dann wäre sie nur kalt, einsam, trostlos. Was also blieb ihm anderes übrig? Von draußen konnte man ganz schwach etwas Licht erkennen wenn man sich die Mühe gab. Und wenn man ganz genau hinschaute, hätte man Tim am Fenster sehen können. Tränen rannen ihm aus seinen blauen Augen  die blasse Wange hinunter und nässten den Stoff seiner Jeans. Es war ihm egal, es war eh niemand da dem es hätte auffallen und stören können. Bei dem Gedanken, musste er erneut schluchzen und weitere Tropfen kullerten Tim aus den Augen.
Dieser Tag war ihm als Kind so wichtig gewesen und nun schon seit drei Jahren musste er ihn alleine verbringen. Man sollte meinen der Schmerz würde mit dieser Zeit nachlassen, aber dem war nicht so. Sonst machte es ihm nicht so viel aus allein zu sein, er lenkte sich genug ab, wenn er nicht gerade arbeiten oder bei seinem besten Freund und dessen Frau war. In der meisten Zeit konnte er dieses furchtbare Gefühl verdrängen, unterdrücken, vergessen und einfach beiseite schieben. Aber an gewissen Tagen wie heute war es einfach nicht möglich. An Tagen wie heute kam alles hoch, alles was er die restliche Zeit verdrängt hatte und auch der ganze Schmerz von früher. Jedes Mal stellte er sich die Frage, was er getan hatte um das zu verdienen, den ganzen Schmerz, die Isolation, die Erinnerungen.. Alles Schlimme was ihm passiert war. Er war nur ein Mensch wie alle anderen, warum also wurde er schon immer so anders behandelt? Wieso klebte das Pech an seinen Schuhsohlen und verfolgte ihn egal wohin er ging? Weitere Tränen fanden ihren Weg auf die bereits durchnässte Jeanshose und Tim drückte sich die Hände auf die Augen, schüttelte den Kopf von einer Seite auf die andere und fiel immer weiter in sich zusammen. Nein er wusste, er hatte das alles nicht verdient, er war ein normaler Mensch, nichts Schlechtes war an ihm. Anderen hatte er immer geholfen wenn er konnte, war sehr Tierlieb und war auch als Kind immer brav gewesen, nicht so wie die anderen Kinder. Er hatte immer getan, was von ihm verlangt worden war und wollte immer nur helfen. Er wusste, bald würden keine Tränen mehr übrig sein und dann würde er da sitzen, mit angeschwollenen, roten Augen und ins Nichts starren. Dem Geraschel der Blätter zuhören und versuchen irgendwas zu tun, damit die Gedanken aufhörten.
Er war normal. Wie er sich fühlte war normal und nichts Abartiges. Er war nicht das, wie alle anderen ihn bezeichneten. Lediglich sein bester Freund Ricardo hatte ihn nie im Stich gelassen und dafür war er wirklich dankbar... 

Der Weihnachtsbaum erleuchtete schwach das kleine Wohnzimmer des Hauses, aber unter ihm befanden sich keine Geschenke und das Haus war vollkommen still, keine Weihnachtslieder wurden gesungen und kein Gelächter war zu hören. Nur Tims schluchzen ab und zu schien die Stille zu durchbrechen und als ihm dieses kleine Detail einfiel, kamen nur noch mehr Tränen und mehr undefinierbare Geräusche von ihm.
Er wollte nicht alleine sein..
Er nahm das Telefon und wählte eine Nummer die er noch immer in- und auswendig kannte. Der Braunhaarige hätte diese Nummer genauso gut blind wählen können.
Er versuchte das Weinen zu unterdrücken, versuchte ganz still zu sein und lauschte. Nach dem fünften Klingeln wurde abgenommen und im Hintergrund konnte man ein paar Leute lachen höre. Währenddessen spielte leise Weihnachtsmusik.
,,Ja?"
Tim hielt sich eine Hand vor den Mund. Er wusste, wenn sie gesehen hätte wer angerufen hatte, wäre sie nicht ran gegangen und als er dann ihre Stimme hörte, merkte er noch deutlicher, wie sehr er sie vermisste.
,,Mum..."
Mehr brachte er nicht heraus, schluchzte nur mehr ins Telefon. Er hätte das nicht tun sollen und unterbewusst hatte er das auch vorher schon gewusst, aber er hatte nicht auf diese kleine vernünftige Stimme in seinem Inneren hören wollen.

,,Ich bin nicht deine Mutter. Meine Tochter ist vor drei Jahren gestorben. Du bist kein Teil der Familie mehr und du hast kein Recht mehr uns anzurufen."
Das war zu viel... viel zu viel. Jedes Jahr an diesem Tag und an seinem Geburtstag wünschte er sich mehr noch als sonst, einfach zu sterben und vielleicht hatte es diesen kleinen Schubser gebraucht, um diesen Schritt zu wagen.

,,Aber Mum... du hast gesagt du würdest mich immer lieben.."
Seine Stimme war gebrochen und rau vom vielen Weinen gewesen und fast hätte man ihn nicht mehr verstehen können.
,,Was ist denn bitte so schlimm daran.. Mum bitte..-"
weiter reden konnte er nicht, seine Stimme brach endgültig und nur mehr ein Kratzen kam aus seiner Kehle.
,,Nenne mich nicht so. Es ist abartig und jetzt bleib weg von meiner Familie und meinem zuhause. Ruf nicht mehr an."
Damit war die Leitung tot und ein kleiner, letzter heiler Teil in Tim starb in jenem Augenblick. Seine Tränen waren versiegt und selbst wenn er gewollt hätte, hätte er keine weiteren Tränen mehr vergießen können. Wenn er doch so ein Monster war, hatte er hier doch nichts mehr verloren. Seine eigene Mutter verabscheute ihn, genauso wie der Rest der Familie und die meisten seiner Freunde fand es genauso anwidernd und ekelhaft wie auch der Rest der Welt. Er war kein normaler Mensch, nur er hatte es von sich gedacht, dachte, dass daran nichts Schlimmes wäre und natürlich sein bester Freund Ricardo, aber der vertrat mit Sicherheit die selbe Meinung wie alle anderen. Das es ekelhaft und abstoßend war. Ricardo sagte bestimmt nur nichts, weil er Mitleid mit Tim hatte. Genau das musste es sein.

Er stand auf um ins Badezimmer zu gehen.
In den vergangen drei Jahren hatte er sich an diesen Tagen geritzt und es hatte ihm geholfen, aber in dieser Sekunde, in diesem Augenblick, diesem Moment hatte er etwas vollkommen anderes im Sinn. Er hatte schon einmal zu tief geschnitten und beinahe wäre es zu spät gewesen, wenn er die Blutung nicht hätte rechtzeitig stoppen können. Im nachhinein bereute ein kleiner Teil von ihm, dass er nicht an diesem Tag gestorben war. Jetzt wollte er das nachholen und diesmal würde er die Blutung nicht stoppen. 

Ein Klopfen an der Tür, lies seinen Blick zum Eingang schweifen. Sollte er auf machen? Was hatte er noch zu verlieren?
Tim machte sich auf den Weg zur Tür und öffnete sie. Dahinter stand ein ungefähr 19 Jähriger Mann im zerschlissenen Mantel, zitternd und verschmutzt.
,,Kann ich dir helfen?" Tims Stimme war nur ganz leise, sanft und kratzig zugleich.
,,Ich wollte fragen, ob ich mich kurz hier aufwärmen könnte.. Ich weiß, dass man keine Obdachlosen in sein Haus lässt, aber ich werde erfrieren, wenn sie mir nicht helfen. Bitte.. Ich bleibe auch nicht lange und ich werde nichts versuchen zu schnorren oder zu stehlen, wirklich Sir..."
Die Zähne des jungen Mannes klapperten aufeinander und das Geräusch was dabei entstand, jagte Tim einen Schauer über den Rücken. Der eiskalte Wind, der von draußen in das Haus blies, lies ihn noch dazu frösteln. 
,,In Ordnung.. komm rein."
Er wusste nicht genau warum er das tat, einen fremden Typ in sein Haus lassen. 
,,Danke Sir, wirklich danke.." 

Tim gab dem jungen Mann eine Decke und brachte ihm einen Tee. Im Spiegel hatte er sich kurz angeschaut und bemerkt, wie scheußlich er eigentlich aussah. Verheult und kaputt, am Ende mit den Nerven, aber sein Gast hatte nichts gesagt.

,,Wer ist sie?"
Er zeigte auf das Bild, das auf dem kleinen Tisch in der Ecke stand. Auf dem Bild war ein junges Mädchen zu sehen. Sie hatte lange braune Haare und Blaue Augen, trug eine Jeans und einen Schlichten Pullover. Sie war wirklich wunderschön, trotz ihrer blassen Haut. Geschätzt war sie zwanzig Jahre alt und neben diesem Bild, war eine weiteres zu sehen mit dem selben Mädchen nur noch ein Stück weit Jünger.

Tim sah ihn prüfend an. Was hatte er noch zu verlieren, wenn er es ihm sagte?

,,Das war ich vor drei Jahren."
Tim brauchte nicht hinzusehen, um das geschockte Gesicht seines Gastes zu sehen und doch tat er es. Sein gegenüber lächelte nur warmherzig.

,,Ich hab das selber durchgemacht... Was meinen sie warum ich von zuhause rausgeflogen bin?
Was für einen Namen haben sie dir gegeben?"
Tim zögerte einen Moment. Er hasste diesen Namen und die Bedeutung die sich dahinter verbarg ebensosehr wie die Erinnerungen, die daran hafteten.

,,Sie haben mich Amélie genannt.. Aber bitte nenn mich Tim.."

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