Jacumo

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An einem stark bewölkten Samstagvormittag ratterte ein Alter Minivan auf einer schmale Straße durch Minnesota. Das Ziel des Vans war eine Schule namens Rittland. Die Rittland Akademie war aber keine gewöhnliche Eliteschule, die so weit in der Natur lag, damit der Nachwuchs reicher Leute sicher vor dem Rest der Welt war. Die Schule lag zwar soweit in der Natur, damit die Schüler sicher waren, allerdings gingen auf diese Schule Kinder, deren Eltern als Einzelhandelsangestellte, als Apothekenbesitzer oder Tankwart arbeiteten. Oder auch Kinder, die keine Eltern hatten. Aber was machte diese Schule dann so besonders, wenn sie für jeden zugänglich war? Einen Unterschied gab es: einen kleinen und doch großen Unterschied, der diese Schule und seine Schüler so besonders machte. Rittland ist ein Internat für Woodwalker. Und genau zur dieser Schule für Woodwalker war der Minivan unterwegs. Denn als erste Woodwalkerin aus einen kleinen Dorf war Jacumo diejenige, die ausgesucht wurde, um die Schule auf ihre Tauglichkeit für die späteren Generationen zu testen.

Sie waren schon fast sieben Stunden unterwegs, erst mit einen kleinen Flugzeug aus dem Gebirgsdorf, dann mit einem Zug über die Grenze nach Amerika und jetzt mit einem Minivan, der ihr Bruder Quentin vom Geologischen Institut geliehen hatte, an dem ihr Vater im Winter arbeitete. Jacumo lehnte sich ans Fenster und schloss die Augen. Sie war müde und nach ihrem Mittagessen an einer typischen amerikanischen Fast-Food-Kette war ihr schlecht. Wenn normale Menschen lieber so etwas aßen anstatt etwas frischem, war ihr nicht klar, warum die meisten dann so einen Aufstand machen, wenn sie im Laden etwas kaufen was schon über dem Haltbarkeitsdatum war. Aber die menschliche Welt war sowieso ein seltsamer Ort, über den man am besten gar nicht so viel nachdenken sollte.

Nach einer Weile bogen sie in eine nicht ausgeschilderte, kaum sichtbare Nebenstraße ab und plötzlich waren sie von einem dichten Wald umgeben. Ratternd fuhr der Van über ein Schlagloch und Jacumos Kopf wurde vom Fenster weg geschlagen gegen sie gleich danach wieder stieß. Erschrocken durch dieses plötzliche Unterbrechen ihrer Gedanken wuchsen ihr lange Fangzähne und ein lautes Fauchen kam aus ihrem nun verwandelten Mund. Während sie die Zähne bleckte und wütend das Fenster fixierte, fuhr Quentin den alten Minivan auf eine schmale Gebirgsstraße. „Ey, Jack pass auf, sonst sieht dich jemand während du aussiehst, wie ein Vampir mit Zahnproblemen". Jacumo ließ davon ab, das Fenster auf's Wütendste anzufauchen und warf ihrem großen Bruder einen Blick zu. Er war zwar gerade erst siebzehn Jahre, aber Vater hatte ihm einen Führerschein aus der amerikanischen Behörde für Woodwalker besorgt. Er selbst hatte sie zwar fahren wollen, aber er hatte plötzlich irgendwas Wichtiges, das er erledigen musste. "Wir sind hier auf einer Gebirgsstraße in Idaho" warf Jacumo zurück, „wenn wir jetzt einen Unfall baue,n können wir von Glück reden, wenn uns überhaupt jemand findet bevor wir uns komplett in ein Stück Erde verwandelt haben, und nur die Wasserflaschen von der Tankstelle an unser Überleben erinnern". Quentin verdrehte die Augen, erwiderte aber nichts, was zeigte, daß er keine Lust hatte, mit ihr weiter zu diskutieren. Jacumo lächelte, was mit ihrem spitzen Katzenzähnen recht seltsam aussah. „Jack, versuch doch bitte, dich wie eine majestätische Schneeleopardin zu benehmen und nicht wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland". Quentins Blick hellte sich auf, als ob ihn gerade etwas sehr Lustiges eingefallen wäre. Aber immerhin passt diese Fratze perfekt zu deiner Narbe. Jacumo sah ihn mit einem drohenden Blick an. Quentin wusste ganz genau wie sensibel sie auf solche Bemerkungen reagierte. „Ein Wort und ich erzähle Mama, daß du hinter ihrem Rücken von Papas Whiskey trinkst. Doch das schien Quentin in keinster Weise zu stören. „ Ist ja gut, Scarface", gab er mit einen ironischen Ton zurück. „Hält die Klappe, Tin, du weißt, daß ich den Namen hasse, außerdem ist die Narbe deine Schuld". Quentin lachte laut auf, während er immer wieder den Spitznamen wiederholte. Der Van fuhr in einen Tunnel und plötzlich wahren sie von Dunkelheit umgeben, die nur von dem Licht der Wandlampen des Tunnels unterbrochen wurde.

Während sie durch den Tunnel fuhren, betrachte Jacumo ihre Spiegelung an der Fensterscheibe. Die namensgebende Narbe lag unter ihrem rechten Auge und hatte eine Sichelform. Quentin hatte sie ihr verpasst, als sie gespielt hatten. Es war ein Versehen gewesen, damals hatte er seine Verwandlung noch nicht im Griff und hatte, so überrascht wegen seiner Krallen, wild um sich geschlagen. Leider traf er ihr so unter's Auge. Obwohl die Wunde nicht sonderlich groß war, ist Vater wie ein Verrückter mit ihnen zum Notarzt geprescht, wobei er gleich von drei Polizeistreifen ins Visier genommen wurde. Man muss sich nur mal dieses Bild vor Augen führen, ein junger Mann, der selbst kurz vorm Nervenzusammenbruch steht, mit zwei schreienden und weinenden Kleinkindern im Auto, von dem das eine auch noch unterm Auge blutet, wie ein Straftäter über alle roten Ampel fährt. Verfolgt von drei Streifenwagen, die ihn versuchten, anzuhalten, während er sich zwei Mal verfährt auf seinem Weg zum Krankenhaus. Als Papa dann irgendwann doch noch das Krankenhaus erreicht hatte, wurde er sogar von einem Hubschrauber verfolgt. Irgendwie konnte er sich dann trotzdem herausreden und hatte es geschafft, uns beide ins Krankenhaus zu bringen, wo er dann das Bewusstsein verlor.

Jacumo grinste, als sie daran dachte, wie Mutter ihr von der Geschichte erzählte, denn natürlich war sie damals noch zu klein, um das alles mitzukriegen. Jacumo strich sich über die Narbe. Sie war auch nach all den Jahren noch immer deutlich zu sehen. Das lag nicht daran, dass sie so tief war, sondern das der Arzt der die Wunde genäht hatte, so schlecht in seiner Arbeit war, dass er erst den falschen Faden benutzte und dann die Wunde viel zu spät zu überprüfen. Als der Faden gezogen werden sollte, war er schon längst mit der Narbe verwachsen. Und seitdem trug sie dieses auffällige Merkmal unterm Auge. Aber sie musste ehrlich sein, eigentlich fand sie die Narbe ziemlich cool. „Jacky, wir sind gleich da". Schon riss Quentin sie aus ihren theatralischen Gedanken. Jacumos Blick fiel nach draußen. Große Kiefern sausten an ihnen vorbei. Ohne das sie es bemerkte, war Quentin in einen kaum sichtbaren Waldweg abgebogen. Schon kam eine große Wiese zu Vorschein, die anscheinend als Parkplatz genutzt wurde, denn sie war übersät von Autos. Während Quentin einen Parkplatz suchte, kramte Jacumo die Sachen zusammen, die sie während der Autofahrt aus ihren Rucksack geholt hatte.

Unter anderem einen kleinen Kassettenrecorder mit Kopfhörern und einige Bücher, die sie vor der Abreise von ihren Eltern bekommen hatte. Sie waren allesamt über Woodwalker und aus einen speziellen Buchgeschäft, das, getarnt als Fantasy-Romane, Bücher über Woodwalker verkaufte. Zum Beispiel gab es einen Roman über berühmte Woodwalker in geschichtlichen Zusammenhängen. Es waren noch ein paar andere dabei, aber Jacumo hatte sie während der Autofahrt nicht weiter beachtet. Als sie alles in ihren Rucksack gestopft hatte, stieg sie aus und folgte Quentin, der sich schon auf den Weg zur Schule gemacht hatte. Während Jacumo ihm folgte, nahm sie die Umgebung ins Auge. Eine kleine Baumgruppe trennte den Parkplatz von dem Gebäude. Ein schmaler Feldweg führte durch die Bäume. Zwischen ihnen konnte man ein rotes Gebäude erkennen. Jacumo und Quentin waren nicht die einzigen, die heute zur Schule liefen. In der Ferne konnten sie die Stimmen von vielen Menschen vernehmen und auch während sie zur Schule liefen, kamen ihnen mehrere Leute entgegen. Allesamt Woodwalker, das spürte Jacumo, auch ihre feine Nase konnte mehrere Tiere wahrnehmen. Ein Junge, der ihr etwas gehetzt entgegenkam, roch stark nach Ziege. Seiner hervorstehenden Stirn, den entschlossenen Augen und den wilden Haaren konnte man ablesen, dass er wohl ein Steinbock-Wandler sein müsse. Auch zwei Opossum-Wandler, eine Maus-Wandlerin und einen Falkenjungen konnte Jacumo erspüren. Als sie aus den kleinen Wäldchen kamen, versetzte es Jack ins Staunen. Ein riesiges altes Gebäude wuchs vor ihnen aus der Erde. Das muss die Schule sein, dachte Jacumo sich, während sie das Gebäude in Augenschein nahm. Eine breite Treppe führte zur Eingangstür, die aus altem Holz geschnitzt war. Über dem Eingang stand in Bronzebuchstaben "Rittland Akademie". Das rote Ziegelstein-Gebäude erstreckte sich nach beiden Richtungen und endete jeweils in einem abzweigenden Gebäude, so dass es schien, als würde die Schule den Eingang mit zwei Armen begrenzen. Das ist also die Rittland-Akademie, die Schule für Woodwalker. Tief verborgen in den Tiefen der Sägezahn-Wildnis in Idaho.

Riittland. Eine Woodwalker GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt