Kapitel 1

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Ich sitze bei meinen Eltern auf dem Sofa. Es ist schon eine Weile her, dass ich sie besucht habe. Obwohl es nur knapp zwei Stunden Fahrt sind, komme ich nur etwa einmal im Monat auf einen Kaffee und etwas Kuchen vorbei. Diesmal aber hat mein Besuch auch einen bestimmten Hintergrund.

"Wie geht es dir? ", fragt meine Mutter.
"Gut. Die Arbeit ist zurzeit relativ entspannt, da die Auftragslage nicht ganz so extrem ist wie sonst."
"Wie kommt es?"
"Die Auftragslage orientiert sich ein wenig an den Ferienzeiten. Immer dann wenn die Fahrer mit ihren Familien in den Urlaub fahren, dann können sie nicht fahren und so können die Speditionen anstehende Wartungen und Reparaturen erledigen, wenn die Fahrzeuge sowieso ausfallen. Mittlerweile ist es aber nicht mehr ganz so dünn. Die Sommerferien sind ja jetzt schon fast einen Monat vorbei und jetzt kommen wieder die Ersten mit den turnusmäßigen Wartungen und Unfallschäden.
"Achso daher kommt das."

Einen Moment lang schweigen wir. Dann eröffne ich den Grund weshalb ich überhaupt hergekommen bin.
"Ich hab was mit euch zu besprechen."
Die beiden schauen besorgt.
"Es ist nicht so wild wie ihr denkt. Ich habe jemanden kennengelernt und ich würde sie euch gerne vorstellen. "
"Sehr gerne, ihr beiden könnt jederzeit vorbeikommen. "
"So einfach ist es leider nicht. Ihr müsst noch ein wenig über sie wissen. Sie ist nicht wie jeder andere Mensch."
Dann erkläre ich den beiden alles ganz genau.

Vor etwa 4 Monaten lernte ich Eleanor Bennett kennen. Es war bei einem Fest auf dem Uni-Campus. Eine Art Tag der offenen Tür, zur selben Zeit wie das Jubiläum. Ein paar befreundete Studenten hatten mich Abends auf eine kleine Party ihres Instituts eingeladen. Ich stand etwas abseits und genoss den warmen Abendwind, der die breite Straße entlang zog. Mir fiel eine Studentin auf, die ebenfalls abseits stand gerade ein Glas Saft leerte. Sie sah etwas einsam aus, wie sie im Schatten des Zeltes stand, also wollte ich versuchen mit ihr ein wenig ins Gespräch zu kommen. Also ging ich zu ihr. Sie bemerkte mich und schaute etwas verlegen. Wir kamen tatsächlich ins Gespräch und sie erzählte mir sie sei keine Studentin. Sie arbeitete beim Deutschen Roten Kreuz im Bereich Kinder und Jugendhilfe. Während wir uns unterhielten fielen mir einige Dinge auf. Sie war nicht nur ein wenig unsicher und verlegen, bei einigen Dingen die ich erwähnte, musste sie nachfragen, da sie keine Ahnung hatte was das sein sollte. Zum  Beispiel musste ich ihr erklären wie das deutsche Transportsystem funktionierte. Als LKW-Mechatroniker kannte ich mich sehr gut aus und hatte noch niemanden gefunden der keine Ahnung davon hatte. Auch einige Dinge die jeder Mensch als selbstverständlich angesehen hätte, waren ihr gänzlich unbekannt. Sie war nicht dumm, im Gegenteil, doch diese Kleinigkeiten fielen mir auf.
Zuletzt konnte ich ihr immerhin ihre Nummer entlocken. Wir verabredeten uns für einen Kaffee und etwas später lud ich sie zu mir nach Hause ein. Stück für Stück lernte ich sie kennen und erfuhr erstaunliche Dinge über sie. Ihr Leben verlief ganz und gar nicht wie das eines jeden anderen Menschen.


Sie ist nur ein Jahr jünger als ich und wurde in Arlington geboren. Ihre Eltern sind unbekannt und eine Geburtsurkunde existiert ebenfalls nicht. Gefunden wurde sie in einer Babyklappe im Virginia Hospital Center. Sofort wurde sie ins staatliche Pflegesystem, dem Foster care system auf englisch, aufgenommen. Sie wanderte von Heim zu Heim, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie. Nie blieb sie länger als zwei Jahre an einem Ort, bevor sie weiter gereicht wurde. Eine ordentliche Schulbildung besitzt sie eben so wenig, wie eine Person der sie in irgendeiner Weise nahe steht. Bis zu ihrem 18 Lebensjahr blieb sie Teil des Systems, bevor sie offiziell volljährig war und aus dem System entlassen wurde. Nun stellte sich ihr die Frage wohin sie gehen sollte.
In einem der Kindeheime fand sie einmal ein deutsches Wörterbuch und auch ein Lexikon über Deutschland. Aus lauter Langeweile und Verzweiflung fing sie an sich Deutsch beizubringen und alles über dieses Land zu lernen. Irgendwann fasste sie den Entschluss hierher zu ziehen, sobald sich ihr die Gelegenheit bot. Und das tat es. Das Deutsche Rote Kreuz hatte eine Kampagne für Fachkräftenachwuchs aus dem Ausland ins Leben gerufen und sie fand eine Stelle die ihr gefiel. Als Auszubildende bei der Kinder und Jugendhilfe. Dort fand sie auch Andere, mit denen sie zusammen in eine WG ziehen konnte. Mit all ihren Habseligkeiten, die in einen kleinen Koffer passten, stieg sie in den Flieger und reiste in ein Land welches sie bisher nur aus Büchern, Bildern und dem Internet kannte.
Als ich sie kennen lernte war sie gerade im letzten Ausbildungsjahr. Ihre Mitbewohnerinnen hatten sie zum Fest mitgeschleift, da sie der Meinung waren sie bräuchte etwas Spaß. Dazu sei gesagt, Ellie ist ganz und gar kein Partymensch. Das bin ich auch nicht, doch wenn wir beide nicht zufällig trotzdem auf diese Party gegangen wären, hätte ich sie wohl nie getroffen und sie wäre nie mit mir zusammen gezogen.

Ich beende meine Erzählung und schaue meine Eltern an. Sie sehen sichtlich bewegt aus und schweigen eine Weile.
"Das klingt wirklich nach einer sehr schweren Kindheit.", meint mein Vater schließlich.
"Das ist wahr. Ich kenne niemanden der als Kind so schwer zu kämpfen hatte wie sie."
"Ich bin mir sicher wir werden sie mögen."
"Dessen bin ich mir auch sicher. Sie ist der wunderbarste Mensch der mir je begegnet ist. Ich will einfach nur, dass sie das Gefühl bekommt, zur Familie zu gehören. Sie hatte ja nie eine."
"Mach dir da mal keine Sorgen."

Nach einem weiteren Kaffee und etwas Smalltalk mache ich mich langsam auf den Weg nach Hause. Unterwegs rufe ich Ellie an.
"Hi Ellie."
"Hey Nick."
"Hast du nächstes Wochenende schon was vor?"
"Nein, wieso?"
"Sehr gut."
"Was hast du vor?"
"Wirst du sehen. Ich bin in zwei Stunden zuhause. Ich hole unterwegs noch Pizza, okay?"
"Oh ja!"
"Wie immer?"
"Ja."
"Alles klar Ellie. Bis später. Hab dich lieb."
"Ich dich auch. Fahr vorsichtig."
"Mach ich."
Ich lege auf und konzentriere mich wieder auf die Straße. Ich bin wirklich gespannt wie der nächste Samstag werden wird. Ellie wird zum ersten Mal meine Eltern kennenlernen. Für sie wird es das erste Mal sein, da sie vorher noch nie einen Freund hatte. Ich dagegen hatte schon eine Freundin, doch das hielt gerade mal ein Jahr, bevor sie mich für einen von den BWL-Studenten verließ.

Beladen mit Pizza und Limonade öffne ich die Wohnungstür. Sofort kommt Ellie angelaufen. Gekleidet in einer Jogginghose und einen von ihren alten grünen Pullovern. Eines der wenigen Dinge die sie aus Amerika mitbrachte. Sie besitzt immer noch nicht viel, ich musste damals beim Einzug noch nicht mal einen neuen Schrank kaufen. Deshalb nutze ich jede Gelegenheit sie mit kleinen Dingen zu überraschen und jeden Moment mit ihr auf Fotos festzuhalten. Als Kind bekommt man immer wieder was von den Eltern geschenkt und im Laufe der Jahre entsteht ein dickes Fotoalbum mit Kinderbildern. Sie besitzt so etwas nicht und genau deshalb möchte ich das nachholen.

Ich stelle die Pizza auf die Kommode im Flur und nehme sie in den Arm. Wortlos stehen wir einen Moment da, dann ziehe ich mir die Schuhe aus während Ellie die Pizzen mitnimmt. Beladen mit den Kartons und den Limoflaschen setzen wir uns aufs Sofa und genießen den Moment zu zweit. Man muss mit Ellie nichts unternehmen, damit sie glücklich ist. Es reicht bei ihr zu sein und mit ihr auf der alten Couch zu sitzen.

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