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In jenen Minuten, in denen der tag die Nacht in rosafarbenes Licht hüllte, doch der Schleier der nächtlichen Stille noch über dem Wald lag, wanderte ein Mädchen durch das taunasse Gras. Es war kühl, doch in ihrem bettwarmen Körper fühlte sie sich wohl.

Sie liebte den Morgen und seine sanften Farben. In unzähligen Pastelltönen kündigte sich der Aufgang der Sonne an.

Doch er schien fern und die Bäume noch müde. Sie fühlte sich wie in einem Traum.

Manchmal erfüllte der Morgen einen ganzen Tag – manchmal konnte sie den Zauber behalten. Jene Tage, in ihr Herz erstarkte und die Materie durchsichtig wurde, wie Papier. Dann füllte sie die Hektik mit Ruhe.

Sie lächelte mild.

„Guten Morgen."

Etwas berührte ihren Nacken, ganz zart.

„Guten Morgen, Lissy.", antwortete eine vertraute Stimme.

Manchmal war auch er so mild und unbegreiflich wie sie.

Ihr Lächeln wurde breiter und sie drehte sich um und erblickte Feodor dicht hinter sich.

„Komm, lass uns zurückgehen."- meinte er leise - „der Unterricht beginnt bald. Und hier ist unser Schulweg länger als in Wladiwostok."

Sie nickte traurig und ließ sich von ihm durch die morgendliche Stille zurück zum Haus ziehen.

***

Obwohl mich der Jahrmarkt am letzten Abend noch weit bis nach Mitternacht in seinem Bann gehalten hatte, wachte ich heute früh auf und war hellwach. Mein Wecker zeigte 5:30 Uhr. Ich stöhnte und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Durch mein großes Fenster viel die ersten zarten Strahlen der Morgensonne. In der Eiche, auf der anderen Seite der Straße sangen zwei Amseln um die Wette.

Schließlich gab ich auf und sprang aus dem Bett. Ein wenig faszinierte es auch, den Tag in solcher frische zu genießen... die Müdigkeit würde mich dann erst in der Schule zerfressen. Ich strich mir eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und ging, Kippe und Streichholzschachtel im Gepäck, auf den Balkon.

Kein einziges Auto rollte über die Straßen der Kleinstadt, kein Hund bellte. Seltsam, dass die Nacht den Menschen bereits gehörte, doch für den Morgen waren sie noch immer blind.

Ich wischte den Raureif von der Brüstung und nahm einen tiefen Zug.

Einen kurzen Moment drehte sich meine Welt wie ein Karussell, dann atmete ich aus.

Seufzend schloss ich die Augen. Ich rauchte sonst nie, wollte und brauchte es nicht, doch heute hatte ich das Gefühl, dass ein Traum in Erfüllung ging.

Und ganz automatisch flossen meine Gendanken wieder zu ihr.

Ihr schlanker Körper drehte sich im Takt der Musik. Sie lachte, immer wieder.

Wer war sie? Ich war mir absolut sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben... trotzdem zog sie mich an. Auf jede nur erdenkliche Weise.

Sofort drängte sich Emma in meine Gedanken. Angeekelt schüttelte ich den Kopf. Ich hatte mich doch tatsächlich von ihr bequatschen lassen. Und so waren wir irgendwann zusammengekommen. Sie hatte mich fast jeden Abend zu sich eingeladen und sich aufgeführt wie eine Prinzessin. Dabei konnte ich sehen, wie verletzlich sie war, jeden Tag aufs Neue.

Ich hatte erst gedacht, sie hätte zwei Seiten – die furchtsame verletzliche, nervöse Seite und die der Königin, der Bitch.

Doch irgendwann sah ich, dass die eine Seite die andere nährte. Und dass sie von all dem Frust und all dem guten Willen der anderen lebte, wie ein Parasit.

Ich verließ sie und habe, ob es mir zustand oder nicht, über sie geurteilt. Bis heute, ein halbes Jahr später, blieb mein Urteil bestehen, eine graue, belastende Zone in unserer Freundesgruppe. Doch ich konnte nicht anders.

Das Mädchen gestern Abend aber war so anders als Emma – schlank und blass, die Haare weiß wie die einer alten Frau. Und sie hatte gelacht. Sie hatte sich gefreut, wirklich gefreut. Doch selbst wenn Emma direkt vor ihr gestanden hätte, ihr wäre der Unterschied wahrscheinlich niemals aufgefallen.

Plötzlich trat mein Vater neben mich auf den Balkon. Seine langen, zerzausten Haare sahen aus wie die eines Gnoms. Ein weiterer Zug vertrieb die schlimmen Gedanken aus meinem Kopf und ich lächelte ihm zu.

„Reichst du mir eine Kippe hinüber?", fragte er und kratzte sich an seinem nicht vorhandenen Bart. Schweigend gab ich ihm die Schachtel und er entzündete mit einem leisen Klicken sein Feuerzeug. Die Sonne blitzte auf einmal so hell zwischen den Ästen der Eiche auf der anderen Straßenseite hervor, dass ich blinzeln musste. Er schüttelte gedankenverloren den Kopf.

„Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie dir sowas kauft."

„Mama?", – ich zuckte mit den Schultern und trat meine dritte Zigarette auf dem nagelneuen Holzfußboden des Balkons aus, – „sie bezahlt es mir lieber, las dass ich es klaue."

Mein Vater zog die buschigen Brauen hoch.

„Was natürlich völliger Unsinn ist, denn ich bin ein braver Junge, dass weist du doch!", fügte ich übertrieben langsam hinzu.

Wir lachten und wussten beide, dass es ihm eigentlich ernst war.

Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er den Kopf in den Händen rieb.

„Hast du stress auf Arbeit?", fragte ich.

„Mhm."

Mitleidig betrachtete ich seine großen Augenringe. Schon am Morgen zuckte sein linkes Augenlied, als stünde er unter Strom.

„Ach Papa, mach einfach entspannt. Dann geht es dir sicher besser."

In diesem Moment trat Mama verschlafen auf den Balkon.

„Meine Worte, Jan!" – bestätigte sie und legte ihm liebevoll den Arm um meine Schulter – „Aber kurz vor dem Urlaub staut sich die Arbeit eben immer."

Bald begannen die Osterferien mit dem Highlight des Jahres: Zwei Wochen Teneriffa. Mein Vater sparte bereits das ganze Jahr darauf, denn er war selbstständiger Fotograf. Viel Geld hatten wir dadurch noch nie. Ich verstand nicht recht, aus welchen Gründen wir den Urlaub vor der Küste Westafrikas verbringen mussten, doch ich freute mich auf Elias. Es würden die einzigen Tage im Jahr sein, die ich mit meinem großen Bruder verbringen durfte.

„Aber die Schufterei wird sich lohnen.", sagte mein Vater und seufzte in die Haare meiner Mutter hinein.

Wie standen alle zusammen noch eine Weile auf dem Balkon, doch irgendwann tickte die Zeit auch hier weiter. Die ersten Autos hetzten aus den Garagen und schlitterten um die nächste Straßenecke als wäre sie eine Rennbahn. Nach der morgendlichen Stille hielt ich den lauten Verkehr kaum aus.

Papa war der erste, der nach einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr das Haus verließ und Mama drückte mir noch einen Kuss auf die Stirn, bevor sie mit unserem Auto wie alle anderen durch die Straßen hetzte. Langsam trat ich meine vierte Zigarette auf dem Balkonboden aus, griff meinen Schulrucksack und schloss die Haustür hinter mir.

Je näher der Urlaub rückte, desto häufiger dachte ich an Elias. Er war inzwischen 22 und studierte Psychologie an der Universität Dresden, gefühlt weiter weg als Nordafrika. Und die wenigen Male, die ich ihn sah, erzählte er strahlend von seinem neuen Leben in der Großstadt.

Ob das weißhaarige Mädchen auch aus einer Großstadt kam? Zumindest schien sie sich auf überfüllten Tanzplätzen wohl zu fühlen.

Im Biologieraum drängelte ich mich unauffällig zu meinem Freund Jakob und ein paar anderen. Emma saß direkt neben ihm und drehte einen Würfel in ihren kleinen Händen. Sie lächelte mir zaghaft zu.

„Morgen Jakob.", murmelte ich. Er grüßte kurz und wandte sich wieder den anderen zu. Nur Emma und ich schwiegen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit klingelte es endlich und die Tür wurde aufgestoßen. Mir klappte die Kinnlade herunter.

Da war sie.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 14, 2019 ⏰

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