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In dieser Nacht gab es ein paar Stunden, die mich die Zeit vergessen ließen. Es war das viele Lachen der Kleinstadtbewohner, das Feuer welches knackend zu den fetten Grillwürsten hinauf loderte, und auch der eigene flache Atem. Die Stunden, in denen ich besoffen war ohne getrunken zu haben.

Es war Jahrmarkt in unserer Kleinstadt, jeder war am Abend hier. Während die Frauen bei einem gesitteten Glas Wein und die Männer bei ihrem dritten Bier beisammensaßen, zogen wir Jugendliche unaufhaltsam über den Platz.

Ein Schrei riss mich aus meinen Gedanken.

„Gib mein Handy her! Ich muss meiner Mutter schreiben!"

Aufgebracht fuchtelte Emma vor Jakobs stämmiger Brust herum. Mein Freund hielt grinsend ihr Telefon hinter sich.

„Da steht sie doch, siehst du sie nicht? Dort vorn, vor dem Glühweinstand!"

Stöhnte Helena, doch Emma nahm keine Notiz von ihrer Freundin. Jakob nickte ihr klug zu und legte das Handy auf sein Käppi.

„Was soll das jetzt?", protesierte Emma, doch so sehr sie sich auch streckte, sie kam nicht einmal bis zu Jakobs großer Nase. Ich sah, wie sie für eine Sekunde überlegte, ihn einfach umzustoßen – ich hatte keinen Zweifel das sie dies beim Kickboxen schon unzählige Male getan hatte – doch das würde sie wohl ihren Display kosten.

Von uns acht war ich mittlerweile der einzige, der Jakobs Auftritt nicht gespannt verfolgte. Wie schon so oft am häutigen Abend ließ ich meinen Blick durch die Nacht gleiten. Die Neonlichter verschwammen bereits vor meinen müden Augen, doch meine Gedanken waren hellwach.

Dies waren jene Stunden, in denen sich die vielen Farben des Jahrmarkts vermischten und veränderten – zu einer neuen Welt, mit neuen Gefühlen und Gesetzen. Ich liebte diese Stunden. Genauso, wie ich die Stille liebte und brauchte.

Ich fragte mich manchmal, wieso ich denn bei ihnen gelandet war. Bei den „Coolen Leuten" meines Jahrgangs. Was nützte es mir, wenn ich doch lieber allein war? Nun, irgendwie hatte es sich so ergeben. Damals waren es noch Janosh und Emma gewesen, doch für mich hatte es immer nur Janosh gegeben. Den Träumer, den Stillen, den mit der rauchigen, leisen Stimme. Ich war auch der, aus dem niemand schlau wurde.
Wahrscheinlich, wie ich es selbst nicht tat.

Ich blickte hinüber zu unserem Stadtwäldchen, das sich neben der Festwiese am Fluss säumte. Glühwürmchen irrten umher und als ich ihnen eine Weile zuschaute, wirkten sie in der Ferne wie Laternen.

„Da drüben ist Musik! Kommst du, Janosh?"

Erschrocken fuhr ich herum. Während die anderen bereits wegschlenderten, kam Emma einen vorsichtigen Schritt auf mich zu. Obwohl ich kaum etwas sah, wusste ich, dass sie mich prüfend musterte. Ich glaube ihre Augen sahen aus wie dunkle Schokolade, zumindest war es mir aufgefallen, früher, als wir noch zu zweit waren.

„Ist alles okay bei Dir?", fragte sie langsam und kam weiteren Schritt auf mich zu.

Ich nickte knapp und ging.

Jakob führte uns in das Gedränge hinein und plötzlich dröhnte von jeder Seite Musik. Es roch nach Rauch, Bier und Würsten. An jeder Bude wummerte ein eigener Lautsprecher, Leute lachten angetrunken und versuchten durch schreien und grölen, noch irgendwie mit einander zu kommunizieren.

Dies war die andere Seite: die laute und ekelerregende. Doch sie war so eng mit den Lichtern der Nacht verbunden und unentberlich für mein Gefühl, durch die Nacht zu fliegen. Auch die schroffe Musik würde mir wohl nie zu viel werden.

An diesen Ständen war ich heute bestimmt schon fünf Mal vorbeigekommen, doch der Schleier der Nacht veränderte sie immer weiter. Etwas erhöht spielte vor uns die einzige echte Band des ganzen Jahrmarkts.

„Schau, wer sind die?", fragte jemand dicht neben mir. Ich schluckte und entfernte mich unauffällig ein paar Schritte von Emma.

„The Kreumatics, dass stand in der Zeitung.", meinte Jakob an meiner Stelle.

„Wollen wir tanzen?"

Emma nickte gedrückt, rannte dann aber doch mit ihrer Freundin Helena auf die Lichter zu. Doch Jakob blieb stehen und wandte sich mir zu. Ich sah in seinen Augen, dass er Emma bemitleidete. ‚Sei nicht so hart zu ihr', schien er zu sagen und sagte es doch nicht, weil er wusste, dass es nichts nützen würde. Schließlich bedachte er mich noch eines letzten Blickes, wuschelte sich noch einmal durch die braunen Locken und verschwand im Gedränge.

Unschlüssig stand ich da uns sah zu, wie er irgendein Mädchen bis an den Rand der Bühne trug. Mir vielen die Augen zu.

Ich gab mir einen Ruck und schlurfte zu einem kleinen Tisch an irgendeinem Stand. Während sich die Band vor mir langsam in den Einheitsbrei der Farben und Töne eingliederte, reichte mir irgend aus dem Stand ungefragt eine Apfelschorle heraus.

„Willst du gar nicht tanzen?", hörte ich eine wohlbekannte, hohe Stimme vom Stand.

„Mit dir würde ich es, aus der Peinlich-Phase bin ich raus."

Sagte ich ohne mich umzublicken und musste schmunzeln.

„Ach komm, du alter Gauner!"-rief meine Mutter und lachte –„nur diesen Abend. Und die ganze Nacht."

Hinter mir bedrohte sie meinen Vater mit einem Grillspieß, bis er sich grummelnd geschlagen gab. Ich lachte in mich hinein, über die Verwechslung.

Meine Mutter sah aus wie ein Model. Oft schätzte man sie erst dreißig Jahre und hielt mich für einen guten Freund. Und sie ließ mich bei allem, was ich tat oder auch nicht. Durch sie kam guter Humor und Liebe in unser Haus – wie sie oft sagte.

Auch mein Vater war ein schöner Man und er liebte sie mit Leib und Seele. Er tanzte neben ihr her, umwarb sie, obwohl sie noch nicht einmal auf der Tanzfläche angelang waren, wie ein italienischer Lover seine neueste Affäre.

Ich beobachtet eine Weile, wie sie ihrer Tanzschule alle Ehre machten, bis mir plötzlich ein langer, schneeweißer Zopf dich hinter ihnen auffiel. Es war ein großes, doch zierliches Mädchen. Jedes Mal, wenn das grelle Licht ihre Gestalt streifte, blitzte etwas in ihren Haaren auf wie Gold. Waren es eingeflochtene Perlen in ihren Rastas?

Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich zu erkennen, was in ihren Harren blinkte. Doch dann drehte sie sich um und ich erblickte ihr Gesicht. Selbst auf diese Entfernung sah ich, wie schön es war.

Sie lachte viel, fast jedes Mal, wenn das Licht für wenige Augenblicke über die Festwiese hereinbrach. Hinter der Bühne hatte die Nacht ein pechschwarzes Tuch über den Wald gezogen. Und auch der Himmel war schwarz und ohne Sterne, so geblendet waren meine Augen.

Aller paar Sekunden ließen die Scheinwerfer die Nacht zum Tag werden und ich kam mir vor wie auf Drogen. Vielleicht war es die Musik, die immer lauter werden zu schien, die Menge, die sich in seltsamen Rhythmen bewegte, oder bewegte ich mich?

Ich sah sie tanzen, rumalbern, springen, trinken und immer wieder Lachen. Sie freute sich mit einem Jungen in Jeans und Hemd. Irgendwann sprang sie ihm in die Arme und küsste ihn leidenschaftlich.

Auch hier konnte ich nicht wegsehen.

Die weiße BlumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt