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Ich frage mich immer wieder, was mich dazu bewogen hat, ausgerechnet in die amerikanische Provinz zu ziehen. In die Provinz des Staates New York, um genau zu sein. Ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass ich vor meiner Vergangenheit, meinem Ex und dem ewig gleichen Trott geflohen bin. Warum es mich jetzt genau dahin verschlagen hat, keine Ahnung. Es war fast so wie im Film, wenn jemand einen Globus dreht und einfach an einer völlig beliebigen Stelle den Finger darauf legt. Fast. Ich habe irgendwo im Internet einen alten Zeitungsartikel über diese Gegend gefunden. Die Leute hier haben gegen die Unterdrückung der Regierung(en) rebelliert und ich dachte spontan "Da muss ich hin!" Ich war schon lange unzufrieden und hatte diese Rebellion bitter nötig. Und so nahm ich all meinen Mut zusammen und kämpfte gegen die Eintönigkeit, den Alltag, die Unterdrückung und führte meinen ganz persönlichen Befreiungsschlag durch.

Irgendwann war das Fass einfach übergelaufen. Ich habe mir einfach übers Internet (Danke für diese Erfindung) einen Job hier gesucht, ein kleines, heruntergekommenes Haus gemietet, meine Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsgenehmigung beantragt und war mit Sack und Pack einfach verschwunden. Und jetzt lebte ich seit drei Monaten in dem kleinen Mohawk-Reservat, das zur einen Hälfte in den USA liegt und zur anderen in Kanada. Es war ländlicher, als ich gedacht hatte. Eigentlich hatte ich hier draußen auf ein bisschen Einsamkeit gehofft, doch natürlich war das hier auch ein Dorf wie alle anderen. Hier kannte jeder den anderen beim Vornamen. Vielleicht findet man Einsamkeit heutzutage eher in einer Großstadt, doch die Leute waren freundlich und die Arbeit machte Spaß. Also blieb ich erstmal. Doch natürlich habe ich schon bei meiner Ankunft für Furore gesorgt. Eine (weiße) Frau aus Deutschland, die aus heiterem Himmel hier eintrifft und sofort einen Job im örtlichen Krankenhaus bekommen und ein Haus gemietet hat. Das war eine Sensation. Die Nachbarn und Kollegen haben mich bestürmt mit neugierigen Fragen. Vor allem wollten sie alle wissen warum um alles in der Welt ich ausgerechnet hierher gekommen bin, und nicht in eine der großen Städte. Und da mir nach der Trennung von meinem langjährigen Freund, dem Kleinkrieg, der darauf folgte, meinen Reisevorbereitungen und der heimlichen Flucht in der Nacht, der tagelangen Anreise und dem Ärger mit der Umzugsfirma wirklich die Energie für irgendwelche Ausreden fehlte, habe ich einfach die Wahrheit gesagt: Ich wollte so weit weg, wie nur möglich! Und vor allem an einen Ort, wo mich niemand aus meiner Vergangenheit vermuten würde. Ich hatte aber meinen Eltern einen Brief dagelassen, weil sie sonst garantiert die Polizei geholt hätten. Darin stand aber lediglich, dass ich für ein paar Wochen Urlaub machen wolle, nicht wohin. Und auch nicht, dass es nie nur ein Urlaub sein sollte. Ich wollte nicht mehr zurück, zumindest nicht in den nächsten Jahren. Das dauernde Geschrei, die fliegenden Teller (ja, bei uns ging es richtig hoch her), das Geheule, die Vorwürfe und diese verdammte, unterdrückte Wut, die mich mehrmals fast ins Krankenhaus gebracht hätte. Langsam und schleichend war aus Liebe erst Unzufriedenheit, dann Abneigung, dann Hass und dann Verachtung geworden. Wir hatten unsere Probleme nie nach außen getragen, es hatte immer alles zwischen unseren vier Wänden stattgefunden. Das hatte ich mich fast wahnsinnig gemacht, dass ich nicht einfach meine Wut herausschreien konnte, rebellieren konnte. Ich hatte mich gefangen gefühlt, wie eine Fliege im Glas. Egal wie sehr ich tobte, ich kam da nicht raus. Ich kenne mich, es war nur eine Frage der Zeit, bis ich ausbrechen würde. Ich hatte es so lange hinausgezögert, wie ich konnte. Immer in der Hoffnung auf bessere Zeiten, dass dieses nagende Gefühl der Klaustrophobie irgendwann einfach vergeht, doch das passierte nicht. Ich konnte es nur für eine begrenzte Zeit unterdrücken. Irgendwann konnte ich nicht mehr.

Ich war also auf meiner Flucht im Reservat der Akwesasne Mohawk Nation mit offenen Armen aufgenommen worden und nachdem mit einigen Wochen Verzögerung endlich meine Möbel den Weg über den Teich geschafft hatten, lebte ich mich auch langsam ein. Ich war gerade dabei, mich für die Arbeit fertig zu machen. Es war noch dunkel draußen, meine Schicht begann heute um 6 Uhr früh. Ich war schon spät dran und so schlüpfte ich schnell in meine Stiefel, schnappte meine Tasche und meinen Schlüssel von der Kommode und stürmte aus der Tür. Draußen klopfte ich mit der Hand auf meine Manteltasche, scheiße, Handy und Zigaretten vergessen. Also nochmal rein, dann noch eiliger durch die Straßen. Ich zündete mir im Gehen eine an und kämpfte dabei gegen den beißend kalten Wind. Zum bestimmt 1000sten Mal in meinem Leben war ich dankbar, dass ich Krankenschwester geworden war. Der Beruf war international, man musste keine zusätzlichen Weiterbildungen oder Seminare über andere Gesetze über sich ergehen lassen. Die Sprache der Medizin, das Latein, war weltweit verständlich und die Gebrechen waren im Großen und Ganzen auch dieselben. Daher war es mir Gott sei Dank sehr leicht gefallen, eine neue Arbeit zu finden und, auch wenn mein Englisch ein wenig eingerostet war, kam ich gut zurecht. Die Kolleginnen, überwiegend waren es Frauen, waren nicht annähernd so karrieregeil und hinterhältig wie in Deutschland. Hier versuchte man einfach, gut miteinander auszukommen und ich genoss den Frieden hier. Keine Intrigen, keine Gerüchte, kein Zoff.

Maneater - The Beast insideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt