Prolog

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Vom Tal aus war das Anwesen nur bei klarem Wetter zu sehen. Doch die meiste Zeit umgab ein dichtes Gewebe aus Nebelschwaden und Wolken den Berg, auf dem es stand. Eingebettet in die weiße Landschaft wirkte es fast wie verlassen, wären da nicht die Fußspuren im Schnee und der kaum wahrzunehmende Rauch, der aus dem Kamin gen Himmel schwebte. Nur bei genauem Hinsehen schien das gedämpfte Kerzenlicht durch die verspiegelten Fensterscheiben. Zierliche Eisblumen umgaben den Fensterrahmen, dessen morsches Holz die kalte Luft nur schwerlich vom Eindringen in die warme Stube abhielt.

In eben dieser Stube saß eine junge Dame, tief über den Tisch gebeugt, der in der Mitte des Zimmers stand. Abgesehen von dem leisen Tapsen der Pfoten der Hauskatze über den wollenen Teppich war nur das Kratzen ihrer Feder über das Briefpapier zu hören. Die langen schwarzen Haare fielen dem Mädchen in Wellen über den gekrümmten Rücken, während sie mit leichter Hand die Tinte über dem Papier verteilte.

„Sehr geehrter Herr Vater, liebe Mutter,

Seit Eurer Abreise kommen mir die Stunden wie Tage und die Tage wie Jahre vor. Es ist, als wäre mit euch jedes Leben aus dem Haus gegangen und der Winter hat Einzug gehalten. Es betrübt mich sehr, dass ich nicht mit Euch zu Vaters Kur kommen konnte. Meine Arbeit am Konservatorium ist nun abgeschlossen und ich sehne mich nach einer Beschäftigung, die meinen wandernden Geist beruhigt. So bitte ich Euch um die Erlaubnis, in der Dorfschule unten im Tal Unterricht zu geben, bis meine Prüfungsergebnisse vom Konservatorium mich erreichen. Selbstverständlich wird mich unsere Hausdame bei den Fahrten ins Tal begleiten. Der Pfarrer berichtete mir nach der Sonntagsmesse von den Missständen in der Schule und schimpfte arg mit den armen Kindern. Doch mein Herz erbarmte sich durch seine Rede und ich möchte den Kleinen helfen, aus ihrem Trübsal zu fliehen.

Ungeduldig warte ich auf eure Antwort und hoffe auf Eure baldige Rückkehr nach hause.

In Liebe,

Amalia"

Vorsichtig legte sie das Papier zur Seite, um die Tinte trocknen zu lassen und räumte die Feder und das Fass zur Seite, sodass die Katze es nicht umstoßen konnte. Als sie aufstand und ihre Kleider sortierte, bemerkte sie, dass die Sonne langsam hinter den höheren Bergen verschwand und den Raum in rotes Licht tauchte. Es war Zeit, um mehr Kerzen zu entzünden und die Haushälterin an das Essen zu erinnern. Die Hausarbeit viel Amalia schwer. Sie war nicht gewohnt, den Hausstaat zu überwachen, übernahm doch ihre Mutter seit jeher diese Aufgabe. Doch im letzten Jahr erkrankte ihr Vater, der Offizier gewesen war, an einer Lungenkrankheit und bedurfte immer öfter feuchte und warme Luft, die das Bergklima ihm nicht bieten konnte. So kam es, dass Amalia der Haushalt überlassen wurde, wenn die Eltern auf Reisen waren. So lange wie zu dieser Zeit war dem Mädchen die Aufgabe jedoch noch nie zuteil geworden, sodass sie sich nach Abwechslung sehnte.

Diese sollte sie schnell finden. Doch, dass ihr Herz schon bald durch bisher unbekannte Gefühle entflammt werden würde, war für sie noch im Verborgenen.

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