Nur kurz durch's Fenster

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„Bin kurz auf Klo".

Mit einem Klappern landete das Headset (Marke: Razor, echt teures Teil) auf dem Schreibtisch. Ein Fuß verfing sich im Kabel, das Headset fiel zu Boden, ein Scheppern, ein Fluchen, dann Stille. Etwas bedächtiger jetzt schob Christian den Schreibtischstuhl auf Seite, der immer an der Teppichkante hängen blieb. Mit schlurfenden Schritten ging er ins Bad. Er musste eigentlich nicht, aber er hatte mal aufstehen wollen. Die Jungs waren heute anstrengend. Und er war es auch, er strengte sich selbst an. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz vor zwei war. Eigentlich kein Grund für diese bleierne Müdigkeit, die ihn bedrückte, aber sein Biorhythmus war komplett „am Arsch", wie er es zu sagen pflegte. Er war seit vier Uhr heute Nacht wieder auf, weil er nicht schlafen konnte, weil er davor die Nacht bis Sonnenaufgang gezockt hatte und naja, immer so weiter. Schlafen hätte er jetzt dennoch nicht können, weil ein Cocktail aus Kaffee und Monster (das ist ein Energy-Drink und der ist komplett anders als dieser RedBull-Mist) durch seine Adern rauschte. Hatte er heute schon etwas gegessen? Er konnte sich nicht erinnern.

Im Bad wusch er sich kurz das Gesicht mit kaltem Wasser, dabei berührte er die Bartstoppeln von mindestens einer Woche, doch es war ihm gleich. In den Spiegel schaute er erst gar nicht, es interessierte sowieso niemanden wie er aussah. Unten im Hof knallten Autotüren, was er nur deshalb hörte, weil das Badezimmerfenster gekippt war. Der SUV des Nachbarn stand in der Einfahrt, offenbar hatte der Mann von dem Paar, das nebenan wohnte, heute frei, denn der stieg gerade aus. Und dann öffnete sich die Beifahrertür. Christian trat einen Schritt näher ans Fenster. Der Hof der Nachbarn lag direkt an ihrem Grundstück, deshalb konnte er sie gut sehen - wenn auch leider nur von hinten. Diese kastanienbraune Mähne kam ihm nicht bekannt vor. Aufgrund ihrer Figur schätzte er irgendwie, dass sie recht jung war und er schloss auch spontan aus, dass es sich um die Affäre seines Nachbarn handelte. Warum ihm dieser Gedanke kam, wusste er auch nicht recht. Der Nachbar holte jetzt einen großen Koffer aus dem Kofferraum und trug auch einen Rucksack. Er sah aus wie der Rucksack von der jungen Frau, die da eben ausgestiegen war. Bestimmt gehörte auch der Koffer ihr. Beide gingen jetzt zur Haustür, ohne dass die Lockenmähne sich einmal umgedreht hatte. Erst als die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war, wandte Christian den Blick ab. So lange wie gerade hatte er der Außenwelt lange keine Beachtung mehr geschenkt, dachte er. Jetzt sah er instinktiv doch in den Spiegel und plötzlich ekelte er sich vor sich selbst. Seine Bartstoppeln waren allmählich keine Stoppeln mehr, sein Haar war fettig und seine Haut wirkte wächsern und unrein. War das Tomatensauce an seinem Kinn? Er verzog das Gesicht. Mit einem Seufzen öffnete er den Spiegelschrank und machte sich dann mit Rasierschaum und Rasierer bewaffnet ans Werk.

„Alter, ich dachte du wärst nur kurz weg man. Wir sind aus'm Turnier geflogen wegen dir!". Christian hatte das Headset wieder aufgesetzt. Seine Haare waren noch nass. Der Stuhl hing wieder an der verdammten Teppichkante fest. „Sorry man, musste meiner Mutter helfen", entgegnete er. An einem anderen Tag wäre er derjenige gewesen, der sich maßlos darüber aufgeregt hätte, dass jemand mitten im PvP-Turnier (Online Turnier gegen andere Spieler) einfach abhaute, aber heute war irgendwie nicht sein Tag. In vier Wochen Semesterferien hatte er jeden Tag hier gesessen und mit Jan und Eric gezockt. Jan war (angeblich) Medizinstudent im sechsten Semester und hatte einfach viel Zeit. Eric war arbeitslos und an die vierzig, schätzte Christian. Über solche Dinge sprachen sie nicht viel und das mit dem Medizinstudium wusste er auch nur, weil Jan so gerne mit seinem Medizinwissen prahlte. Christian behielt davon eigentlich nichts, außer dass Ohrenschmalz „Cerumen" genannt wurde und dass es noch ein anderes Wort für Brustwarzen gab, das ihm gerade nicht einfallen wollte. „Bist du jetzt wieder dabei?", fragte Jan, der ihn gerade angemeckert hatte. Er war einer von der ehrgeizigen Sorte. Hatte vor Christians Semesterferien schon einen Plan aufgestellt, wann sie trainieren sollten und wann sie Pausen machten, und so weiter. An den Plan hielt sich keiner, aber das war auch letzten Endes nicht so wichtig. Eigentlich war nur wichtig, dass sie möglichst viel Zeit ingame (im Spiel) verbrachten und dabei möglichst viele Gegner schnetzelten, damit sie nachher auf der Rangliste so weit oben wie möglich waren. „Glaub ich mach mal ne Pause", sagte Christian und gleich darauf verabschiedete er sich, verließ den Sprachchat und setzte das Headset ab. Er hasste das, wenn es so still war. Unten im Haus hörte er seine Mutter mit Töpfen klappern, aber ansonsten war es echt still. Mit einem Ächzen ließ er sich aufs Bett fallen und überlegte, was er tun sollte. Auf Masturbieren hatte er nicht richtig Bock, irgendwie war ihm das gerade zu anstrengend. Mit einem Arm angelte er nach der Fernbedienung und schaltete irgendein Programm ein, in der Hoffnung, die Langeweile würde vergehen. Statt auf die Mattscheibe glitt sein Blick jedoch durch den kleinen Raum, den er seit beinahe zwei Jahren sein Zuhause nannte. Vor seinem Kleiderschrank stapelten sich mehrere Umzugskartons, die er noch nicht ausgepackt hatte. Dadurch konnte man nur eine Tür des Schranks öffnen, aber das störte ihn nicht besonders. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich ein paar Teller, Tassen und Energy-Dosen, die er dringend wegräumen sollte. Einmal hatte er nämlich Fruchtfliegen deshalb im Zimmer gehabt, die er nur schwer wieder losgeworden war.

Sein Bett nahm den Großteil des Raumes ein. Es war ein Zwei-mal-zwei-Meter-Ungetüm, das er aus Berlin mitgebracht hatte, als sie hierher gezogen waren. Probeweise zog er die Decke zu sich ran und hielt sie sich unter die Nase. Wie oft musste man Bettwäsche eigentlich wechseln? Träge öffnete er einen Knopf an dem Bezug. Dann noch einen und dann noch einen. Immerhin konnte man liegen bleiben, während man diese Arbeit verrichtete. Er war so unglaublich müde. Bald hatte er die Decke aus dem Bezug befreit und kurz darauf auch das Kissen, das er sich ohne Bezug wieder unter den Kopf schob. Kurz darauf schlief er beim im Hintergrund laufenden Fernseher ein.

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⏰ Last updated: Apr 24, 2019 ⏰

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