Das Erwachen Teil 2

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Piiiiiep. Piiiiiiep. Piiiiiiep. Ein ohrenbetäubendes Gepiepte riss mich aus meiner wohligen, schwarzen Leere. Ehrlich gesagt hatte ich mir den Himmel anders vorgestellt. Denn dort musste ich gelandet sein, nachdem das riesige Mauerstück auf mich gekracht ist. In meinen Vorstellungen war das Jenseits stets friedlich und voller wäre gewesen, anstatt laut, kalt und nervig. Ich war an sich schon immer leicht reizbar gewesen, aber dieses monotone Piepen brachte mich zur Weißglut. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass es im Jenseits piepen könnte. Der Ton hallte komisch in meinem benebelten Gehirn nach, wie ein Echo in einer sehr tiefen Höhle. Mühsam versuchte ich meine verklebten Augen, zu öffnen. Ein Unterfangen, das ich leichter in Erinnerung hatte. Bis jetzt hatte mich der Himmel oder das Jenseits oder wo auch immer man landet, wenn man gestorben ist noch nicht überzeugt. Als ich es endlich schaffte, sie einen Spalt zu öffnen, blendete mich grelles Licht. Unverzüglich musste ich meine Augen wieder schließen, um nicht zu erblinden. Das Geräusch wurde schneller und zu meinem Entsetzen auch lauter. Piep. Piep. Piep. Piep. Piep. Piep.

Erneut versuchte ich meine Augen, zu öffnen, und dieses Mal ging es deutlich leichter als zuvor. Ich konnte das gleißende hell jetzt als Sonnenlicht ausmachen, das durch ein schlecht poliertes Fenster mit Schlieren fiel. Nach ein paar weiteren Sekunden wurde mein Sichtfeld langsam schärfer. Ich erkannte einen kahlen Raum mit hässlichen ockerfarbenen Wänden. Nein definitiv, dieser Himmel war nicht mein Fall. Ich starrte direkt auf einen Fernseher, der aussah, als würde er aus dem letzten Jahrhundert stammen. Schleppend drehte ich mühsam den Kopf, um mehr von dem dürftigen Raum erkennen zu können. Bei jeder noch so kleinen Bewegung dröhnte mir der Schädel. Ich erkannte, dass ich auf einem typischen Krankenhausbett lag. Eins bei dem man das Kopfteil hoch und runterfahren konnte. In jeder anderen Situation hätte ich es sicher lustig gefunden damit zu spielen, aber hier hatte ich ehrlich gesagt etwas Spannenderes erwartet. Meine Bettdecke war farblich an die Wände und den Boden angepasst. Alles hier war Ockerfarben. Neben mir entdeckte ich dann endlich den Ursprung des Geräusches. Konnte der Vitaldatenmonitor oder wie auch immer man dieses verdammte Gerät nennt seine Klappe halten. Ich hatte verstanden, dass ich offensichtlich noch einen Herzschlag hatte. Der Ton hallte weiter durch meinen Kopf und ich hatte das Gefühl, er würde gleich Platzen. Ich wollte endlich Ruhe. Reflexartig riss ich die Hände nach oben, um mir die Ohren zuzuhalten. Dabei stieß ich mir den Gips, in dem meine verletzte Hand steckte, gehen den Kopf. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich. Verletzungen im Jenseits. Wow, vielen Dank auch. Wut stieg in mir auf. Sollte, dass alles hier ein verdammter Scherz sein? Voller Zorn zupfte ich mir die Kanüle, mit der ich an den Monitor angeschlossen war, aus dem Arm, was sich mit eingegipster Hand gar nicht so leicht bewerkstelligen lies. Als ich es dann endlich schaffte, gab das Teufelsgerät ein noch viel lauteres, lang gezogenes Piiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiep von sich. Resigniert stöhnend schloss ich die Augen wieder. Womit hatte ich das verdient.

Leise konnte ich jetzt panische Stimmen ausmachen, die immer näherkamen, bis die Zimmertür mit einem lauten Krachen aufgestoßen wurde. Zwei Menschen in weißen Kitteln rannten ins Zimmer. Wütend verdrehte ich die Augen. Es gab sogar Ärzte in meinem eingebildeten Krankenhaus. „Die Kanüle hat sich anscheinend nur gelöst, kein Grund zur Panik", sagte eine freundliche, tiefe Männerstimme. Der dazugehörige, dunkelhäutige Mann mit Glatze und Stethoskop um den Hals bückte sich nach der Kanüle und inspizierte sie. Währenddessen betastete die Krankenschwester meinen Puls und die Einstichstelle. Offensichtlich hatte ich die Augen eine wenig zu weit aufgemacht, denn die junge, etwas dickliche Frau wandte sich zu dem Mann um und sagte: „Doc. Sie ist endlich aufgewacht." Der Mann schaute lächelnd zu mir hoch und nickte. Während er sich wieder erhob, öffnete ich die Augen ganz. „Schön, dass du wieder unter uns weilst. Mein Name ist Dr. Aaron Grant und das ist Schwester Edith", die blonde Frau winkte, „wir kümmern uns um dich. Wie fühlst du dich?" Seine Frage klang gleichzeitig fürsorglich und sachlich, wie man das von einem guten Arzt erwartete. Alles in allem schien alles hier sehr Real. Wie konnte es sein, dass es im Himmel genauso war wie auf der Erde. Verwirrt starrte ich ihn an oder viel mehr durch ihn hindurch. Ein schrecklicher Gedanke schoss mir durch den Kopf. Was wenn ich gar nicht gestorben war? Was wenn ich immer noch auf der Erde war und die Kollision mit dem Stein überlebt hatte? Aber das war ... unmöglich. Dieses Trümmerstück war halb so groß wie ich und sehr massiv. Es hätte auf jeden Fall meinen Oberkörper erwischt und all die nachrückenden Steine. Sie hätten mich alle begraben müssen. Ich konnte das unmöglich überlebt haben. Irritiert schüttelte ich den Kopf und bereute es sofort wieder. Denn dieser pochte schmerzhaft. Der Arzt, deutete meine Bewegung falsch, denn er fragte sofort: „Hast du Schmerzen? Kannst du Sprechen?" Ich musste unbedingt herausfinden, was passiert ist und wo ich bin. Ich musste wissen, ob das alles real ist oder ob mir meine Fantasie einen Streich spielt. Dr. Grant berührte sanft mein Handgelenk, nachdem ich wieder nicht auf seine Frage reagierte. Seine Berührung verpasste mir einen elektrischen Schlag, die mich zurückzucken lies. Schnell zog er seinen Arm weg. „Es tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen", sagte er schuldbewusst, während er mich musterte. „Wo bin ich hier?", platzte es aus mir heraus. Meine Stimme klang nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte, viel kratziger und rauer, als wäre ich heiser.

„Du bist im North Central Krankenhaus in Bronx, Schätzchen", erklärte die Schwester ruhig. „Es ist ganz normal bei dem was passiert ist, dass alles erst einmal verwirrend scheint", fuhr sie mit einem aufmunternden Lächeln fort. Das klang nicht so, als wäre ich gestorben. Ich war immer noch in Bronx, in New York. Es gab wohl kaum im Himmel ein New York. „Ich bin nicht tot", flüsterte ich, mehr zu mir selbst als an jemanden gerichtet. Ausgesprochen klangen die Worte viel dämlicher als in meinem Kopf. Die Schwester und der Arzt wechselten einen schnellen Blick, bevor seine Augen wieder mich fixierten und er in einfühlsamem Ton sagte: „Nein, du bist nicht Tod. Du uns gerade einen ganz schönen Schreck eingejagt hast", er nickte in Richtung der Kanüle auf dem Boden. Ich war also am Leben. Aber wie konnte das sein, ich hatte gesehen, wie der Stein auf mich zu rutschte, er hätte mich zerquetschen müssen. Vielleicht hatten mich die Rettungskräfte danach direkt gefunden. Aber selbst dafür sah, von meiner Hand mal abgesehen mein Körper zu gut aus. Da ich nichts sagte, schien Dr. Grant das als Einladung zu verstehen weiter zu sprechen. „Ehrlich gesagt ist es ein Wunder, dass du überlebt hast. Du hattest wahnsinniges Glück, dass du nur in ein tiefes Loch zwischen den Steinen gefallen bist und von keinen Trümmerstücken verschüttet wurdest. Die Rettungskräfte konnten dich schnell finden und herbringen. Bis auf eine gebrochene Hand, einem zertrümmerten Knie bist und einer leichten Gehirnerschütterung bist du unversehrt."

Mir klappte die Kinnlade herunter: Ich lag in einem Loch? Aber ich erinnerte mich ganz deutlich an die vielen Trümmerstücke um mich herum. Ich war davon begraben. Ich wurde von dem roten Betonstück zerquetscht. Wie zur Hölle konnte das alles sein. Spielte mir mein Gehirn einen Streich. Hatte ich mir die Trümmer über mir nur eingebildet? Nein, ich hatte doch dagegen geschlagen. Meine Hand war immer noch verletzt. Irgendwas passte hier nicht zusammen.

„Da waren überall Steine", stammelte ich verwirrt, „Ich war begraben von Steinen, mich hat einer zerquetscht." Panik stieg in mir auf. Was war passiert, was stimmte? Hatte ich mir alles nur eingebildet?

„Das ist ganz normal, dass du verwirrt bist. Das geht allen Traumapatienten so. Lass dir Zeit. Es wird sich alles wieder normalisieren. Dein Gehirn braucht ein paar Tage, um die Ereignisse zu verarbeiten", sagte er verständnisvoll und legte mir die Hand auf die nackte Schulter, an der das Krankenhaushemd heruntergerutscht war. Wieder durchzuckte mich ein heftiger Stromstoß und ich zog meine Schulter weg. Er schien es gar nicht zu bemerken. Offensichtlich war ich ganz schön elektrisch aufgeladen. Neben Verwirrung drängte sich jetzt auch ein anderes Gefühl in den Vordergrund: Hoffnung. Ich hatte überlebt. Also hatte Gott mein Gebet erhört oder ich hatte einfach nur wahnsinniges Glück. Die Hoffnung erstarb allerdings sofort wieder, als ich nach den anderen Kindern und Betreuern fragte. Der Arzt wechselte erneut einen kurzen Blick mit der Krankenschwester und schüttelte dann kaum merklich den Kopf. Ein Gefühl der Leere breitete sich ganz langsam in mir aus. Es fühlte sich an, als würde mein Körper von innen erkalten. Niemand hatte das Unglück überlebt. Auch wenn ich nie eine besonders enge Bindung zu diesen Menschen hatte, war ich mit vielen von ihnen aufgewachsen. Diese Leute waren so etwas wie meine Familie. Ich habe mich im Leben immer einsam gefühlt, aber jetzt war ich endgültig allein. Dieser Gedanke erfüllte mich mit tiefer Traurigkeit und Wut. Darüber, dass sie alle nicht mehr waren, aber auch dass ich es noch war. Sie hatten mich allein in einer Welt zurückgelassen, die mich nie wollte. Dr. Grant räusperte sich: „Es tut mir sehr leid. Es ist ein wahnsinniger Verlust. Du solltest dich ein wenig ausruhen. Wenn du etwas brauchst, kannst du jederzeit auf den roten Knopf drücken". Er deutete mit dem Kopf zu einer kleinen Fernbedienung auf dem Tisch neben dem Bett. Ich nickte kurz und die beiden verließen den Raum. Als sie fast die Tür erreicht hatten, hörte ich Schwester Edith leise sagen: „Wir müssen die Polizei verständigen und bescheid sagen, dass sie endlich aufgewacht ist. Nach sechs Wochen, du lieber Himmel, das arme Kind.." Dann schloss sich die Tür und ich war allein. Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Verwirrung, Angst, Unverständnis, Trauer und Wut kämpften um die Vormacht. Scheinbar gewann die Trauer, denn dicke heiße Tränen kullerten mir über die Wangen. Ich hatte überlebt. Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen, aber zu welchem Preis. Ich weinte um all die anderen Kinder und die Betreuer und ich weinte um mich.

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⏰ Last updated: Apr 27, 2019 ⏰

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