Das Erwachen Teil 1

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Als ich aufwachte, lag ich in den Trümmern meiner Vergangenheit mit dem Wissen, wieder einmal alles verloren zu haben. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was passiert war, aber das Ausmaß dessen sah ich direkt vor mir. Das Haus, in dem ich wohnte, war komplett zerstört. Ich lag in einer ovalen kleinen Höhle, die ein wenig unnatürlich wirkte. Über mir lagen Trümmer von Wänden und Decken, die scheinbar auf mich herunter gekracht waren und sich wie ein Wunder um mich herum verhakt hatten. Mühsam versuchte ich mich aufzusetzen, doch ein heftiger Schmerz zuckte durch mein Bein, das seltsam verdreht auf dem Boden lag. Was war nur passiert?

Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war ein heftiger Streit mit meiner Betreuerin. Es ging darum, dass ich fünf Minuten zu spät nach Hause gekommen war, obwohl ich lediglich im Park vor unserem Haus war. Ich hatte mich so ungerecht behandelt gefühlt und war wütend geworden. Wir hatten uns angeschrieben wie noch nie zuvor. Dabei hatte sie mir vorgeworfen, ich wäre kindisch und ich hatte ihr an den Kopf geworfen, sie könne mir nichts sagen, da sie nicht meine Mutter sei. In einer kurzen Atempause hörten wir plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall und im nächsten Moment flogen Glassplitter auf uns zu, die von dem Fenster direkt neben uns stammten. Der Boden unter unseren Füßen schwanke und Mary schrie panisch. Danach wurde alles schwarz.

Jetzt kam mir der Streit sinnlos und albern vor. Würde ich Mary je wiedersehen? Würde ich hier überhaupt je wieder rauskommen aus meinem ovalen Hohlraum oder würde ich lebendig unter den Trümmern begraben bleiben? Panik überkam mich. Ich war eingeschlossen zwischen verdammten grauen Betonteilen, die gefährlich über mir knirschten. An manchen Stellen konnte man noch Rückstände von Farbe erkennen. Panisch tastete ich nach einem Stein und versuchte ihn wegzuschieben. Aber das Einzige, was ich damit Bezweckte war, die Tatsache, das kleinere Steine auf mich herabfielen und mir die nackten Arme aufschürften. Allerdings kümmerte mich der Schmerz gerade herzlich wenig. Ich musste hier raus. Irgendjemand hatte doch sicher mitbekommen, was passiert war und würde nach uns suchen, oder? Verzweifelt schrie ich nach Hilfe. Aber bis auf das Knirschen der Steine blieb es still. Was sollte ich bloß tun. Ich schrie noch ein paar Mal um Hilfe, aber nichts passierte. Hoffnungslos und mit Tränen in den Augen starrte ich ein rotes Trümmerstück an, das direkt über mir verhakt und ungefähr so groß war wie ich. Ich wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn er sich bewegte. Wenn ich hier sterben würde, hätte ich nichts in meinem 17-jährigen Leben erreicht. Ich wüsste nicht einmal, wer ich war, hätte meine Eltern nie kennengelernt und hätte die Welt nicht verändert. Ich wusste nicht mal, was Liebe war. Ich hatte immer nur Ablehnung und Hass erfahren. Niemand wollte mich je haben, nicht mal meine eigenen Eltern. Ich meine, warum gibt man sonst sein Baby in einem Waisenhaus ab. Dort wurde ich zwar geduldet und großgezogen, aber nie akzeptiert. Ich war allen immer zu still und zu in mich gekehrt gewesen. Die anderen Kinder hatten mir Angst gemacht und später war ich ihnen zu distanziert gewesen.

Mein Leben war bis jetzt nichts wert gewesen, aber ich hatte es fast geschafft. Ich war so kurz davor gewesen dem Waisenhaus zu entfliehen und mein eigenes Leben zu beginnen. Ich hatte so hart für mein Stipendium fürs College gearbeitet, hatte stundenlang langweilige Wälzer gelesen und die anderen Schüler abblitzen lassen, die sich für mich interessierten. Hatte nur Bestnoten geschrieben und mich nicht von anderen Dingen wie Jungs und Partys ablenken lassen. Jetzt sollte das alles umsonst gewesen sein, wenn mich hier niemand fand. Nein, das konnte unmöglich alles gewesen sein. Ich würde nicht hier in diesem Drecksloch sterben. Diese Entschlossenheit lies mich trotz meines verletzten Beines aufstehen. Wackelig stand in nun in meinem kleinen Oval und konnte gerade so den roten Trümmerstein erreichen. Ich drückte bestimmt dagegen. Aber wie zu erwarten passierte nichts. Nur feiner Sand rieselte mir ins Gesicht. Ich durfte nicht aufgeben. Es muss doch einen Weg hieraus geben. Es muss einfach. Wieder drückte ich dagegen und wieder traf mich der Staub. Wütend schlug ich mir voller Wucht dagegen. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch die Hand und ich zog sie schnell an meine Brust, fest umklammert mit der anderen Hand. Gerade wollte ich mich über meine eigne Dummheit ärgern, als ich bemerkte, dass sich ein kleiner, feiner aber dennoch deutlich erkennbarer Riss in dem grauen Stein abzeichnete. Irritiert strich ich mit einem Finger meiner gesunden Hand darüber. Wie konnte das sein. Ich konnte unmöglich so viel Kraft gehabt haben. Ich schaffte nicht einmal ein Liegestütz, auch wenn ich in Form war. Was zur Hölle war gerade passiert. Der Stein fühlte sich eiskalt an und ich schauderte. Ob wegen der Kälte oder wegen dem, was gerade passiert war, konnte ich nicht sagen. Ich wollte gerade meine Hand von dem kalten Stein zurückziehen, als ich ein merkwürdiges Pulsieren im Stein spürte. Es fühlte sich an wie der Pulsschlag eines Menschen, nur sehr viel schwächer. Erschrocken riss ich meine Hand weg. Jetzt spielte mir auch noch mein Gehirn einen Streich. Mutlos setzte ich mich wieder hin, um mein verletztes Bein zu entlasten. Noch immer verstand ich nicht, wie ich diesen Riss im Beton verursachen konnte. Wäre ich in einer anderen Situation, hätte ich vermutlich Witze darüber gemacht, dass ich der neue Hulk werden würde. Aber mir war nicht nach Scherzen zumute. Zumal meine Hand vor Schmerz pochte. Ich wagte einen Blick darauf und konnte im difusen Licht, dass durch die Ritzen der Trümmer fiel, erkennen, dass der Schlag die Haut an meinen Fingerknöcheln zerfetzt hatte und sie blutig waren. Das hatte ich ja super hinbekommen. Ich saß verletzt in einem Trümmerloch und hatte nichts Besseres zu tun, als mich noch mehr zu verletzen. Das war wohl nicht meine klügste Tat. Andererseits was spielte es schon für eine Rolle. Eine Weile saß ich da und suhlte mich in meinem Selbstmitleid, ohne auch nur einen Gedanken an die anderen Kinder hier ihm Heim zu verschwenden. Als mir das bewusst wurde, kamen sofort die Schuldgefühle in mir hochgekrochen. Ich egoistisches Arschloch war wenigstens noch am Leben, was sicher nicht alle anderen 13 Kinder von sich behaupten konnten. Kinder, mit denen ich groß geworden war und die ich vermutlich nie wiedersehen würde. Ich kam zwar nie sonderlich gut mit ihnen ausgekommen und war immer ein wenig eifersüchtig gewesen, wenn eines von ihnen eine nett wirkende Familie gefunden hatte, die ich mir immer so sehr gewünscht hatte. Aber das hier hatte keiner von ihnen verdient. Ich hoffte sehr ein paar, von ihnen hatten mehr Glück und wurden gefunden oder hatten es noch nach draußen geschafft. Ich war nie ein besonders gläubiger Mensch. Ich war, soweit ich wusste nicht einmal getauft worden. Aber in diesem Moment schien es mir richtig mich an Gott zu wenden. Deshalb betete ich für all die anderen Kinder, für meine Betreuer und für mich selbst. Ich bat darum den Himmel und das Meer noch einmal sehen zu können.

Und gerade als ich fertig war, hörte ich ein knacken über mir. Der Riss breitete sich langsam aber sicher aus und wurde immer länger. Zwischen durch stoppte er immer wieder kurz, als müsste er innehalten, nur um sich dann noch weiter zu verästeln und auszubreiten. Ich hielt den Atem an und wusste, jetzt war es vorbei. Ich hatte nicht einmal mehr die Energie wirklich Angst zu haben. Ich wollte nicht sterben. Nicht hier in diesem Loch. Nicht allein. Aber das interessierte weder den Stein von Gott. Der Riss ging jetzt einmal quer über das Trümmerstück und brach ein. Erst trafen mich keine Steinchen, doch dann wurden sie immer größer. Es hatte sich ein Spalt gebildet, durch den weiterer Schutt von weiter oben hereinbrach. Schützend hob ich die Hände über den Kopf und kauerte mich auf den Boden, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Dann brach eine Hälfte des roten Trümmerstücks herab und ich wusste das wars. Ich warte darauf, dass mein Lebensfilm anfing, sich vor mir abzuspielen. Das passiert doch, wenn Menschen sterben, oder? Aber stattdessen wurde es einmal kurz gleißend hell. So hell als würde ein Stern explodieren und gleichzeitig breitete sich eine wohlige Wärme in mir aus. Alles schien auf einmal so friedlich. Ich sah das Betonstück immer näherkommen. Alles geschah wie in einer ultra Zeitlupe und dann lösten sich der große Stein und alle kleinen Steine, die auf mich zu schossen, in Staub auf. Und feiner, weicher Steinsand rieselte andächtig auf mich herab. Wenn das Sterben war, dann war es schön, friedlich und warm. Als würde der Tod einen mit einer freundlichen, warmen Umarmung begrüßen und einen einladen mitzukommen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich angekommen, glücklich und ganz. Langsam schloss ich die Augen und die Welt um mich herum wurde zum zweiten Mal schwarz.

Darkness among usWhere stories live. Discover now