Solaria
Mühsam rappele ich mich auf. Mein ganzer Körper zittert wie Espenlaub. Wütend stapfe ich auf Tenebris zu, auf den Mörder meiner Schwester.
Zorn erfüllt mich, und vor Tränen blind erkenne ich ihn nur als Silhouette.
"Mörder!!" schreie ich ihn an.
"Oh, bist du jetzt wütend? Tut mir leid...aber sie war im Weg," sagt er mit falschem Bedauern in der Stimme. Ich ziehe mein Schwert und hole damit aus, überrascht weicht Tenebris zurück. Seine finsteren Augen fixieren mich.
Ich treffe ihn am Arm, doch plötzlich wird es wieder Dunkel um mich herum, und ich kann nichts sehen.
"Zeig dich, du verdammter Feigling!" donnere ich und schwinge mein Schwert umher.
"Ich mache dich fertig!" schreie ich, und er antwortet lachend:"War dir die Dunkelheit nicht gerade noch so wichtig?"
"Mein ganzes Leben besteht nur aus Dunkelheit, es wird Zeit, etwas davon zu beseitigen," erkläre ich mit gebrochener Stimme. Tenebris lacht nur, zieht alles ins Lächerliche. Der Zorn tobt in mir.
Dann trifft mich etwas in den Magen, und ich falle auf die Knie, lasse mein Schwert fallen.
"Der Auftrag sieht eigentlich euch beide vor. Willst du denn nicht von der Dunkelheit erlöst werden?"
Die Zweideutigkeit dieser Aussage macht mich nur noch wütender. Er kann mich nicht erlösen. Nur der Mondgott kann mich erlösen, und ich muss ihn finden! Ich darf hier nicht sterben! Ich darf einfach nicht, ich darf nicht!!
Stella...
Mit brennenden Tränen in den Augen taste ich rastlos nach meinem Schwert.
Doch als ich es gerade ertaste, wird es heller um mich herum.
Die Sonne geht langsam auf, merke ich, aber das liegt nicht an mir. Die Nacht ist vorüber, und ein neuer Tag bricht an. Ich habe nichts damit zu tun. Das ist nur der Lauf der Dinge. Ich zittere vor Wut.
Aber nicht nur die Sonne zeigt sich. Ich erkenne Tenebris ein paar Schritte vor mir stehen, und gerade kommt noch Jemand anderes auf die Lichtung gelaufen, der Tenebris erstaunlich ähnlich sieht.
Zielstrebig läuft er auf den Mörder zu, holt prompt mit der rechten Faust aus und schlägt ihn nieder. Der Schlag sah nicht wahnsinnig kräftig aus, aber Tenebris ist sofort am Boden und bleibt dort auch. Wer ist er, dass er so kräftig zuschlagen kann, ohne sich sonderlich dafür anzustrengen?
Der Kerl packt Tenebris am Kragen und schleift ihn mit sich, er lässt mich einfach mit meiner toten Schwester dort hocken.
Doch dann bleibt er stehen, wendet mir den Blick zu. Ich präge mir das Gesicht meines Retters genau ein. Er sieht Tenebris ähnlich, er könnte sein Bruder sein. Doch sein Haar ist blond, sein Kinn spitzer, seine braunen Augen freundlicher.
Ohne ein Wort dreht er sich allerdings wieder um und geht. Den bewusstlosen Tenebris schleift er einfach hinter sich her durch den Dreck.
...wer war das?
Allein bleibe ich an Ort und Stelle sitzen. Ich traue mich gar nicht, nach links zu sehen, wo meine Schwester liegt, doch irgendwann muss es dann wohl doch sein.
Sie ist so bleich. Erneut schießen mir die Tränen in die Augen.
Ich krieche zu ihr heran und nehme ihre Hand, die bereits kalt wird. Das Blut überströmt sie, und auch ich habe es bereits an meinen Händen.
"Du kannst mich doch nicht einfach verlassen," schluchze ich und da merke ich auch den Regen wieder. Sie hat ihn mit ihrer Magie von uns fern gehalten, uns abgeschirmt, doch jetzt ist diese Magie verwirkt.
"Verlass mich nicht," bitte ich, obwohl ich weiß, dass es nichts bringt.
Meine Welt zerbricht. Alles geht zugrunde. Keiner ist mehr da. Keiner hilft mir, keiner bringt mir meine Stella zurück. Sie ist meine Zwillingsschwester, sie ist ein Teil von mir, und dieser Teil ist gerade mit ihr gestorben.
Wenn ich mich vorher noch nicht leer gefühlt habe, als würde mir etwas fehlen, dann jetzt.
Verzweifelt umklammere ich die Phönixfeder und den Mondstein an meiner Kette, und bleibe einfach dort im Regen hocken. Irgendwann spüre ich meinen Körper kaum noch, so durchgefroren ist er, doch es ist mir egal. Alles, was zählt ist meine Schwester, die tot im Gras liegt.
Ich weine nach meinem Vater und meiner Mutter wie ein kleines Kind, doch niemand kommt, um alles wieder gut zu machen. Ich bin einsam. Jetzt mehr als je zuvor. Sie verschluckt mich, diese Einsamkeit, zwingt mich in die Knie.
Wer war der Kerl, der Tenebris mitgenommen hat? Und wer ist Tenebris überhaupt? Wo kam er her? Mein benebelter Verstand vermag mir keine Antwort zu geben.
Ich bin allein. Was soll ich jetzt nur tun? Wir wollten zurück nach Mutario, eine Pause von der Reise einlegen, unsere Eltern besuchen, auf dem Dach des Palastes tratschen, gemeinsam wieder zu den Apfelbaumwiesen reiten.
Ich kann sie nicht tot mit nach Mutario bringen. Ich kann meinen Eltern nicht ihre tote Tochter bringen.
Wie soll ich jetzt überhaupt weitermachen? Meine Atmung beschleunigt sich. Meine Schwester. Meine Schwester. Meine Schwester!
Ich kann nicht ohne sie. Ihr Tod ist meine Schuld. Allein meine.
Die Sonne knallt über mir, die Wolken am Himmel verdunsten in Sekunden. Das Gras der Lichtung, die wenigen Blumen, sie verwelken. Die Blätter fallen von den Bäumen, als wäre der Herbst nicht mehrere Monate lang sondern wenige Minuten. Meine Tränen tropfen auf den nun kargen Boden. Alles um mich herum dörrt aus, die Hitze wird unerträglich für Tiere, sodass auch sie schnell das Weite suchen. Meine Haut heizt auf, und im nächsten Moment fängt die erste kahle Baumkrone Feuer.
Mein Schrei lässt letzte Vögel in der Gegend erschrecken und davon fliegen.
Unbekannt
Wütend zerre ich ihn hinter mir her, er versucht dabei, sich irgendwie aufzurappeln, aber er schafft es nicht. So stolpert er hinter mir her und landet dabei immer wieder im Dreck. Schließlich ramme ich ihm noch ein weiteres Mal die Faust ins Gesicht, als wir uns ein Stück entfernt haben.
"Was hast du nur getan?? Was hast du getan, du idiotischer Bastard!?"
"Ich habe nur den Auftrag erfüllt!" verteidigt Tenebris sich wütend und richtet sich mühsam wieder auf, wischt sich das Blut vom Mund ab.
"Weißt du, was hier gerade passiert?? Weißt du es, Bruder?!"
Er schubst mich heftig gegen einen Baum, der bedrohlich knarzt vor Trockenheit. Splitter fliegen durch die Luft, die Luft wird stickig.
"Ich habe den Auftrag erfüllt, der uns zu Ruhm und Reichtum verhilft!"
"Du hast die Schwester einer Herrschergöttin getötet!! An deinem Reichtum war ich nie interessiert!!"
"Pah, du warst schon immer viel zu gut für diese Welt. Viel zu weich und schwächlich!"
"Sieh dich doch um! Was denkst du, geht gerade in der Sonnengöttin vor?? Jeder im Land weiß, dass er ihr fehlt, dass sie leidet und Halt braucht. Meinst du nicht, du hast ihr gerade ihren letzten Halt genommen?? Jetzt zerstört sie das Land und nimmt sich danach selbst das Leben, ich verwette meine Kraft als Gott darauf!"
"Soll sie doch, sie steht sowieso auf der Todesliste!"
Wieder schlage ich ihn zu Boden. Er hat ja keine Ahnung, hat nur sein eigenes Wohl im Kopf. Wäre ich doch nur schneller gewesen, dann hätte ich ihn aufhalten können. Dass ich die Sonnengöttin gerettet habe bringt jetzt eigentlich auch nicht mehr viel, denn sie verliert gerade vollends den Verstand, wie es scheint.
Schnell packe ich meinen bewusstlosen Bruder und zerre ihn erneut mit mir. Hier können wir nicht bleiben, bald wird von diesem Teil des Landes nur noch Wüste übrig bleiben. Es gibt nur eine Person auf diesem Planeten, der sie aufhalten könnte, aber der ist weit weg.

YOU ARE READING
Sternenregen (Band 2)
FantasyNachdem der Gott der Dunkelheit Tenebris überraschend auftauchte und Stella ermordete, ist Solaria am Ende. Kopflos will sie alles hinschmeißen, doch auf ihren Freund Volan ist verlass. Zusammen suchen sie weiter den Mondgott. Er scheint der einzig...