Al vivo todo le falta, y al muerto todo le sobra

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For one who's alive, nothing's quite enough, while for one who's dead, anything's too much.











Es war das erste Mal. Das erste Mal und es regnete in Strömen. 
Die Wolken hingen tief und grau am Himmel. 
Ich hatte mir die Kapuze meiner schwarzen Jacke tief ins Gesicht gezogen. Den Reißverschluss bis ganz oben geschlossen. Ich fror fürchterlich. 

Als ich losging, waren noch keine Wolken zu sehen. Also hatte ich mir nichts dabei gedacht, als ich heute Morgen mein schwarzes Top, meine dunkelblauen Hotpants und meine Lieblingsschuhe, schwarz weiße Plattform Sneakers, anzog. 
Ich hasste den Regen. Er machte mich traurig. Zog meine Stimmung noch tiefer, als sie ohnehin schon war. Dennoch musste ich zugeben, dass der Regen perfekt ins Bild passte. Er unterstrich die düstere Stimmung. 

Ich war die einzige auf der Strasse. Kaum Autos waren unterwegs. Die Menschen mieden das scheußliche Wetter. Und würde ich mich nicht dazu verpflichtet fühlen, hätte ich schon längst wieder umgedreht und wäre zurück nach Hause gegangen. 
Mit meiner rechten Hand umklammerte ich fest den Strauss Blumen. 
Weiße Rosen. Sie schienen so unschuldig in meiner verkrampften Hand. 

Ich seufzte, wobei mein Atem in weißen Wölkchen aufstieg. 
Glücklicher weise konnte ich bereits das Tor sehen, das auf den Friedhof führte. 
Mit zügigen Schritten ging ich darauf zu. 
Ich wollte das so schnell wie möglich hinter mich bringen. 
Wer wollte schon bei Regen auf einem Friedhof sein? Wenn niemand sonst in der Nähe war? Ich jedenfalls nicht. 

Ich streckte meine Hand nach dem nassen Griff aus und zog das Tor auf. 
Anders als gedacht, wirkte es hier keineswegs gruselig sondern friedlich. Friedlich und still. Herrlich still. 

Meine Schritte knirschten auf dem Kiesweg. 
Ich wusste nicht genau, wo ihr Grab lag, deshalb musste ich ein wenig suchen. Während ich Ausschau nach ihrem Grab hielt, kam ich an vielen anderen, meist eher schlichten Grabsteinen vorbei. 
Vereinzelt gab es wirklich schöne, gepflegte Grabsteine zu sehen. Bei ihnen blieb ich kurz stehen und las mir die Namen und das Todesdatum durch. 
Dann ging ich allerdings auch schon wieder weiter. 
Ich kannte niemanden von den Leuten, die hier begraben lagen. Also interessierte es mich auch nicht wirklich. 
Als ich jedoch schließlich vor einem nicht ganz so gepflegten Stein stehen blieb, lösten die eingravierten Zahlen darauf einen heftigen Schmerz in meiner Brust aus.


Estefania Emilia Moreno
1997 – 2009


Sie war so jung. 
Sie war im selben Jahr geboren wie ich. Sie wäre genauso alt wie ich es war. 
Aber sie starb. Und es schien niemanden zu interessieren, denn es lagen keine Blumen dort. 

Ich überlegte nicht lange und legte die weißen Rosen vor das Grab. 
Natürlich kannte ich sie nicht. Aber ich fand es unfair, dass niemand an sie dachte. Und ich fand, der Strauss machte sich dort gut. Er passte dorthin. 

Langsam ging ich weiter. Ich wollte schließlich nicht ewig hier bleiben. Zwar hatte ich nicht unbedingt Angst, aber deprimierende Gedanken kamen in mir auf. Ich dachte hier über Dinge nach, über die man in meinem Alter nicht nachdenken sollte. 

Irgendwann würde auch ich hier begraben liegen. Vielleicht erst in ein paar Jahren. Vielleicht aber auch schon in wenigen Tagen. Und es würde die Zeit kommen, da würde man auch mich vergessen. Vielleicht nicht so schnell wie Estefania, aber dennoch würde ich nicht für immer in den Köpfen der Menschen, die mich liebten, sein. 
Nun stand ich wieder vor einem Grab. Dieses hier war grösser als das von Estefania. Hier lagen Blumen, Kerzen deren Flamme im Regen erloschen war, Briefe die aufgeweicht wurden, Bilder bei denen die Farbe langsam verlief. Sogar ein Teddybär war hier. So viele Menschen die an sie dachten. Jetzt wo sie tot ist. Jetzt wo es ihr nichts mehr bringt. Sie hätten damals an sie denken sollen. Als sie es brauchte. Ich verabscheute all diese Menschen, die hier Blumen und dergleichen hinlegten nur, weil sie sich schuldig fühlen. Und dennoch bin ich nicht besser. Auch ich war nicht für sie da. Auch ich habe sie im Stich gelassen. Und auch ich stehe nun hier, weil ich mich schuldig fühle. 
Ich musterte das Grab vor mir mit einem kalten Blick.


Angelica Ventura. 
2000 – 2012


Sie war meine Stiefschwester. Ich konnte sie nie besonders gut leiden. 
Als mein Vater uns damals verlassen hatte, zerbrach die Welt um mich herum. 

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