Kapitel 3

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Bob war verschwunden. Eigentlich würden wir jetzt eine Szene drehen, in der er auch mitspielte, doch er war unauffindbar. Die letzte, die ihn gesehen hatte, war ich. Er hatte sich einfach umgedreht. Und dann war er gegangen. Ich würde nicht behaupten, dass ich mir tatsächlich Sorgen um ihn machte, aber ich war schon neugierig, wohin er sich verzogen hatte.
Da die Dreharbeiten nun sowieso erstmal pausiert waren, beschloss ich, mich auf die Suche nach ihm zu machen. So weit konnte er schließlich nicht sein. Vielleicht hatte er ja auch einfach nur ein bisschen seine Ruhe haben wollen.
Was wenn er gar nicht gefunden werden wollte? Warum suchte ich überhaupt nach ihm? Er würde mich doch eh nur wieder blöd anreden oder...
Plötzlich hielt ich inne. Da saß jemand auf den Treppenstufen. Er hatte den Kopf in den Schoß gelegt und seine Hand umklammerte einen kleinen Zettel. War das etwa Bob, der da wie ein Häufchen Elend an der Treppe hockte?
Langsam näherte ich mich ihm. Dann räusperte ich mich zaghaft. „Bob?", fragte ich.
Er sah auf. Als er mich erkannte, sprang er erschrocken auf, stolperte fast über die Stufen und rannte davon. Doch aus dem Augenwinkel hatte ich noch gesehen, dass er Tränen in den Augen hatte.
„Bob, warte doch mal!", rief ich ihm nach. Ich wollte ihm hinterherlaufen, doch dann entdeckte ich, dass er den Zettel fallen gelassen hatte, den er zuvor noch in der Hand gehabt hatte. Neugierig hob ich ihn auf. Erstaunt stellte ich fest, dass es ein Sterbebild war. Darauf war ein Mann zu sehen, der Bob zum Verwechseln ähnlich sah. Gestorben am 02.07.1997. Der Mann auf dem Bild schien damals nicht viel älter gewesen zu sein als Bob es jetzt war. Ob das wohl sein Vater war?
Plötzlich stand Bob oben an der Treppe. Ihm schien wohl aufgefallen zu sein, dass er etwas verloren hatte. „Gib das wieder her! Das ist meins!", schrie er und lief die Treppe nach unten, bis er bei mir angelangt war. Dann riss er mir das Sterbebild aus der Hand.
Erst jetzt wurde mir klar, was ich vorhin eigentlich angerichtet hatte, als ich gesagt hatte, Bob's Eltern hätten ihn nicht richtig erzogen. Plötzlich hatte ich ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. „Das ist dein Vater, oder?"
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht", konterte er. Doch ich konnte sehen, dass er den Tränen immer noch nahe war. Dabei war es schon so lange her, dass sein Vater gestorben war. Nahm ihn das trotzdem noch immer so sehr mit? Oder steckte da mehr dahinter?
„Du hast recht", seufzte ich. „Es geht mich überhaupt nichts an. Eigentlich wollte ich mich auch nur entschuldigen. Was ich vorhin zu dir gesagt habe, war blöd. Deine Eltern haben sicher nichts falsch gemacht bei deiner Erziehung. Zumindest nicht mehr als alle anderen Eltern. Und ein Arsch bist du natürlich auch nicht."
Er blickte mich an. Doch von dem Hass, den er zuvor auf mich gehabt hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Er wirkte vielmehr traurig. „Wer weiß, vielleicht hattest du mit dem Arsch gar nicht so unrecht."
Verwirrt sah ich ihn an. „Wie meinst du das?"
Er seufzte. „Naja, zu dir war ich ja tatsächlich ein ziemlicher Arsch. Und das Traurige ist, dass ich schon mein ganzes Leben lang ein Arsch bin. Auch zu den Menschen, die mir etwas bedeuten."
„Nur weil man manchmal jemanden blöd anredet, ist man noch lange kein Arsch", entgegnete ich. „Da gehört doch noch viel mehr dazu."
Zweifelnd sah er mich an. „So? Ab wann ist man denn deiner Meinung nach ein Arsch? Wo ziehst du da die Grenze?"
Ich zuckte die Achseln. „Naja, ich denke, das muss man von Fall zu Fall entscheiden, findest du nicht?"
Niedergeschlagen blickte er zu Boden. „Reicht es denn, seinen eigenen Vater umzubringen, um ein Arsch zu sein?"
Was? Wie kam er denn jetzt auf so etwas? Er hatte doch wohl nicht...? Nein, bestimmt nicht. So etwas würde er nicht tun, oder? „Das ist jetzt eine rein hypothetische Frage, hab ich recht?", fragte ich unsicher.
Doch er schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, das wäre es. Aber leider nein."
Ich schluckte. Er hatte tatsächlich seinen eigenen Vater umgebracht? Wie konnte man so etwas nur tun? Vor allem war sein Vater doch 1997 gestorben. Da musste Bob ja noch ein Kind gewesen sein.
„Ich weiß, das muss ein Schock für dich sein", meinte er. „Aber keine Sorge, du musst dir nicht weiter darüber Gedanken machen. Ich werde kündigen. Ich sage Jason, dass er sich einen neuen Schauspieler suchen soll. Dann musst du mich nie wieder sehen." Mit diesen Worten drehte er sich um.
„Bob, warte!", rief ich und rannte ihm nach. „Ich will es wissen. Ich will, dass du mir die ganze Geschichte erzählst. Erzähl mir, wie du ihn umgebracht hast."
Er wandte sich mir zu und sah mir tief in die Augen. „Ich denke nicht, dass du das wirklich hören willst", entgegnete er.
„Doch, das will ich", widersprach ich. „Ich will hören, wie es passiert ist. Denn ich glaube nicht, dass du es aus Mordlust getan hast." Vielleicht wollte ich auf einfach nur nicht, dass er es aus Mordlust getan hatte. Ich wollte an das Gute in ihm glauben.
Er seufzte. „Mein Dad, er war ein ganz besonderer Mensch. Er war ein großartiger Vater. Der beste, den man sich hätte wünschen können. Er war immer für mich und meine Geschwister da, wenn wir ihn gebraucht haben. Und er hat immer viel mit uns unternommen." Er wischte sich eine Träne von der Wange. „Jeden Samstag waren wir mit ihm beim Bogenschießen. Das war fast schon eine Tradition in unserer Familie. Und allen hat es Spaß gemacht. Nur ich habe es gehasst. Ich hatte einfach kein Talent dafür und habe nie das Ziel getroffen. Aber jedes Mal musste ich mitgehen. Selbst als meine Geschwister schon so alt waren, dass sie Zuhause bleiben durften, musste ich noch mitgehen, weil ich der Jüngste war. Und einmal hatte ich noch weniger Lust darauf als sonst. Alle meine Freunde waren im Kino, aber ich durfte nicht mitgehen, weil ich zum Bogenschießen musste. Ich war so wütend auf meinen Vater." Seine Stimme brach und es dauerte einen Moment, bis er weiterreden konnte. „Als wir dann am Übungsplatz waren, habe ich schon angefangen zu schießen, während mein Dad noch seinen Bogen aus dem Auto geholt hat. Er war etwa zwanzig Meter weit weg von mir. Und ich hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm einfach mal eine Lektion zu erteilen. Also habe ich den Pfeil auf ihn gerichtet. Und ich habe losgelassen. Und was soll ich sagen, das war das erste und letzte Mal, dass einer meiner Pfeile sein Ziel nicht verfehlt hat."

Beliza - From the first meeting to the weddingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt