Frost

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Schreie.

Schritte.

Dann plötzliche Stille.

Was war passiert?

Wo war ich?

Grelles Licht stach mir plötzlich in die Augen. Ich konnte Gestalten schemenhaft erkennen. "Gott sei Dank, er ist aufgewacht! Deena, komm schnell her!", rief eine Stimme. Eine andere Stimme kreischte freudig auf. Ehe ich mich versah wurde ich in eine innige Umarmung gezogen. Ich blinzelte ein paar Mal und konnte nach einer Weile alles erkennen - zwar recht verschwommen, aber hey, besser als nichts. Ich erkannte meine Eltern. Mein Vater stand neben meiner Mutter, die mich gerade halb erwürgte. Ihre lockigen, blonden Haare stachen mir wie weiche Nadeln ins Gesicht. "Charles, wir dachten du stirbst!", quietschte sie. "Wieso...? Was war denn...?", krächzte ich und bemerkte, dass jedes einzelne Wort, das mir über die Lippen kam, schmerzte. Als würde meine Lunge nicht genug Luft aufbringen, um es mir ermöglichen zu sprechen. 

"Du warst mit ein paar Freunden - ich glaube, es waren Jason, Mila und Kenneth - Schlittschuhfahren. Dann ist anscheinend das Eis unter deinen Füßen weggebrochen und du wärst fast ertrunken - oder erfroren.", erklärte mein Vater seelenruhig. Doch ich erkannte sofort, dass die Ruhe nur bemüht war. Und da erinnerte ich mich an alles.

Wie ich auf dem Eis rumschlitterte. Wie Kenneth unnötiger Weise einen Ast eines Baumes in das Eis rammte. Wie Kenneth irgendwas, von wegen "dieser See ist jetzt unser Revier, wir müssen nur noch eine Flagge an diesen Stock hier befestigen" laberte. Wie er mir ahnungslos ins Gesicht grinste.

Wie das Eis plötzlich knackte und schließlich einbrach. 

Wie Kenneth erschrocken nach hinten stolperte, um nicht in das eisige Wasser zu fallen.

Und wie ich in das Wasser fiel.

Ich konnte mich kaum bewegen, war vor Kälte wie gelähmt. Vor Schock versuchte ich zu atmen, weshalb ich das Eiswasser in die Lunge bekam und ohnmächtig wurde.

In diesem Moment hatte ich mit meinem Leben abgeschlossen.

"Kenneth, Mila und Jason haben dich sofort aus dem Wasser geholt und ins Krankenhaus gebracht, Mila hat davor noch uns angerufen.", erklärte mein Vater weiter. Er fuhr sich überfordert durch die pechschwarzen Haare.

Ich versuchte durchzuatmen, doch es schmerzte. Ich kriegte kaum Luft. Dann sah ich mich um und realisierte, dass wir in einem Behandlungsraum eines Krankenhauses waren. Ich war an irgendwelchen Schläuchen befestigt. "Was sagen die Ärzte?", brachte ich raus. Die Worte brannten wie Feuer, obwohl sie kalt wie Eis klangen. Meine Mutter hörte auf mich zu erdrosseln und sah mir komplett aufgelöst ins Gesicht. Ihr Makeup war komplett verwischt und mit Tränen zermischt. Sah nicht schön aus. "Du... du...", quietschte sie, wurde aber von einem Schluchzen ihrerseits unterbrochen. Mein Dad seufzte im Hintergrund und meinte mit einem verbittertem Unterton: "Du wirst nie wieder sprechen können, Charles."

Diese Information traf mich wie ein Schlag. Ein eiskalter Schlag. Ein Schneeball, der mit Wucht in meinem Gesicht landete.

"Aber... ich spreche doch...", murmelte ich krächzend, als meine Stimme brach. Ich bekam kein Wort raus. Nur ein heiseres Quieken. Doch selbst das schmerzte. "Die Ärzte sagten, du wirst, nachdem du aufgewacht bist, nur ein paar Minuten sprechen können und dann nicht mehr. Sie haben dir Medikamente gegeben, die das ermöglichen. Doch eben nur für zehn Minuten.", erklärte mein Vater und nun erkannte ich auch Tränen in seinen Augen. 

Mein Hirn fing an, die Informationen zu verarbeiten. Ich würde nie wieder sprechen können. Verdammt, wie sollte ich dann mit anderen kommunizieren? Mit Gebärdensprache? Nicht jeder konnte Gebärdensprache - ich mit eingeschlossen! "Deine Lunge wurde schwer beschädigt. Mehr haben die Ärzte uns nicht gesagt.", erklärte meine Mutter quietschend weiter.

Ich würde nie wieder sprechen können. Und das alles nur, weil Kenneth einen verdammten Stock in die Eisoberfläche des Sees gestoßen hat. Krass, wie das alles eskaliert ist.

Eine Woche später war ich immer noch nicht drüber hinweg gekommen. Ich hatte mir die einst braunen Haare eisblau gefärbt, um meinem Schicksal eigene Farbe zu verleihen. Das half zwar kein bisschen, aber immerhin war mein Leben bunt. Mein Problem war immer noch: wenn meine Freunde redeten und lachten, konnte ich nicht mitlachen und meine Meinung dazu sagen. Ich konnte nur lächeln und hoffen, dass ich plötzlich doch noch reden konnte. Das meine Lunge sich dazu entschloss: "Hey, ich sollte auftauen und es Charles ermöglichen mit seinen Freunden zu labern!". Doch das geschah nicht.

Und das war noch nicht mal das Schlimmste.

Nicht nur meine Stimme war eingefroren, sondern auch meine Gefühle.

Seit ich nicht mehr sprechen konnte, konnte ich nicht verdeutlichen, wie ich mich fühle. Wenn ich wütend war konnte ich nicht schreien. Wenn ich glücklich war konnte ich nicht lachen. Und wenn ich traurig war konnte ich nicht jammern. Als hätte man meine Gefühle in ein Gefrierfach gesteckt und nie wieder rausgeholt. Klar, ich konnte noch durch Mimik und Gestik verdeutlichen, was in mir vorging, doch es war nicht das Selbe.

Noch eine Woche später wurde ich wahnsinnig. Ich wollte Rache. Kenneth sollte dafür leiden, schließlich war er es ja, der den Stock ins Eis gehauen hat, und die Oberfläche somit zum Brechen gebracht hatte. 

Also sollte er dafür sterben.

Und ich wusste schon wie er seinen ehemaligen besten Freund umbringen würde. 

Wir würden sich noch diesen Sonntag treffen, also in zwei Tagen. Ich war dabei, den Mord zu planen. In Gedanken perfektionierte ich jedes Detail und war mir schließlich sicher: Kenneth hatte keine Chance zu überleben.

Und dann kam der Tag.

Kenneth's Todestag.

Kenneth und ich saßen bei Kenneth zuhause vor der Glotze. Unauffällig griff ich in meine Hoodietasche, in der sich eine Nadel und ein eisblauer Faden befanden. Gleich würde es so weit sein. Ich stand auf. Als ich sah, dass mein ehemaliger Freund mich anschaute, deutete ich auf mich und dann in Richtung Küche. Kenneth verstand und nickte. Also ging ich in die Küche. Dort öffnete ich bemüht leise eine Schublade und holte das längste Messer, dass ich finden konnte - ein Fleischermesser. Ein irres Grinsen schmückte mein Gesicht, in meinen Augen glänzte purer Wahnsinn. Aber auch Frust. 

Auf leisen Sohlen schlich ich zurück ins Wohnzimmer. Kenneth hörte mich nicht kommen. Und als er mich hörte, war alles schon zu spät. Denn ich hatte ihm schon das Messer in den Hinterkopf gerammt. Kenneth schrie schmerzerfüllt auf, ehe er blutspuckend zusammen sank. Seine leblosen Augen sahen mich ein letztes Mal an, ehe es ruhig wurde. Er war tot. Alles war voller Blut. Doch das Grinsen auf meinem Gesicht blieb. Gekonnt sprang ich über die Sofalehne und setzte mich neben Kenneth's toten Körper. Ich holte die Nadel und den blauen Faden aus meiner Tasche und begann, Kenneth's Mund zuzunähen. Zum Glück waren die Eltern des Toten nicht zuhause, die hätten bestimmt schon längst die Polizei gerufen. Die Nachbarn hatten anscheinend nichts von all dem bemerkt. Perfekt.

Nachdem ich nun mit meinem Meisterwerk fertig war stand ich auf und lächelte triumphierend. Der Mund meines besten Freundes war verschlossen. Nun war er stumm - genau wie ich selbst. Ich steckte die Waffen ein und machte sich auf den Weg zu Jason - es war nämlich Jason's Idee, damals überhaupt Schlittschuhfahren zu gehen.

Einen Monat später waren die Zeitungen mit dem rätselhaftem, blauhaarigem Jungen gefüllt. Der Sechzehnjährige hatte nicht aufgehört zu morden. In der ganzen Stadt war er nur als "Frost" bekannt. Man kannte seinen echten Namen zwar - den hatten seine Eltern der Polizei gesagt -, doch man nannte ihn nur Frost, weil man so begeistert von seiner Hintergrundgeschichte war, dass man ihm einen Pseudonym gab. Währenddessen mordete Frost immer weiter. Bis an sein Lebensende.

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