Third Late Night Conversation

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Will

Ich zeichne endlich wieder. Es ist, als sei mir meine fehlende Inspiration heute einfach so begegnet. Vielleicht ist es das Gefühl, angekommen zu sein. Seit ich Schneewittchens Augen geblickt habe, die so zerbrochen sind, weiß ich, dass ich ihr das Gefühl von Leben wiederschenken möchte. Abends, als Jules gerade aufgelegt hat, die wissen wollte, wie es mir in meiner neuen Wohnung geht, kommen mir die Ideen. Es ist kurz vor meinem Treffen mit Avery. Ich zeichne, schraffiere, grundiere, verändere und verzweifele beinahe, als das Bild nicht einmal zur Hälfte fertig ist. Plötzlich merke ich, dass es bereits Viertel nach Acht ist. Sie ist bestimmt schon da. Ich bin fest entschlossen, ihr zu zeigen, wie schön das Leben ist, auch wenn ich selbst momentan nicht wirklich auf zwei Beinen stehe. Aber vielleicht hilft auch sie mir wieder dazu, glücklicher zu sein. Vielleicht ist das der Grund, warum ich hier bin.

"Will?", flüstert sie, als ich das Fenster öffne.

Ich sehe sie bereits am Geländer lehnen. Sie lächelt fast schon, als sie mich sieht.

"Wie geht's dir?", frage ich leise. Der Wind trägt meine Stimme davon.

"Ich-", setzt sie an.

"Ich weiß, du stellst hier die Fragen."

Sie lächelt jetzt wirklich. Ich lächele offen zurück. Ihr Lächeln ist so schön, dass ich es malen will. Sie hat Grübchen unter den Nasenflügeln und ihre Augen haben grüne Sprenkel in der grünen Iris wir ein Seerosenteich. Wie Monets Seerosenteich. Ihre Lippen sind rosig und ihre helle Haut an den Wangen von der Winterluft gerötet. Ihre dunklen Haare hat sie zu einem dicken Zopf geflochten, der über ihre Schultern hängt, dick und weich. Ich könnte sie ewig weiter anstarren.

"Ihre Frage, Madame?"

Sie lehnt sich übers Geländer, lacht aber leise, als ich zusammenzucke.

"Ich springe nicht. Heute nicht. Vielleicht auch morgen nicht. Ich weiß es noch nicht."

Dann fixiert sie meine Hände, die voller Farbe sind. Sie sagt nichts, aber sie versucht, hinter mir durch das Fenster in mein Atelier zu schielen.

"Ein Künstler", stellt sie fest und klingt fast überrascht, "Ein Künstler, der Will heißt und das Leben liebt. Der Flügel und Wurzeln braucht und gerne lächelt. Das weiß ich über dich. Ich hoffe es ist okay wenn ich dich duze."

Ich nicke. "Ich bin nicht so alt. Erst 26. Und du?"

Sie will fast schon ihren Standardsatz wiederholen, antwortet dann aber doch:

"24. Ich werde im Mai 25."

Sie schaut auf den Main, in dem sich die Lichter der Stadt spiegeln.

"Wer ist dein Lieblingsmensch?"

Huch, das ist wohl die heutige Frage. Hat sie einen Philosophieband in ihrer Wohnung?

"Meine Schwester Jules. Sie ist zwei Jahre jünger als ich und der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie war es, die mir mit der Wohnung hier geholfen hat. Sie war immer für mich da und ich bin immer für sie da. Ich liebe sie mehr als alles andere, weil sie mir so nahe steht."

Avery lächelt in sich hinein, während sie zuhört.

"Hast du auch Geschwister?", frage ich sie und rechne schon mit ihrer Standardantwort, doch sie sagt leise: "Einen Bruder. Landon. Er ist unterwegs."

Wir schweigen und schauen auf den Main, wobei ich ab und zu zu ihr schiele. Sie fasziniert mich so stark, dass ich nicht wegsehen kann. Irgendetwas in ihr ist besonders. So besonders, dass ich mich jeden Abend auf unsere Konversation auf dem Balkon freue.

"Gute Nacht, Will."

"Gute Nacht, Avery", sage ich, als ich nur noch ihre Kurven sehe, wie sie sich auf ihr Fenster zubewegt. Einen kurzen Moment verharrt sie. Dann kichert sie.

"Klingelschild?"

"Was? Das ist viel zu simpel für mich."

"Was dann?", sie dreht sich noch einmal zu mir um. Ihre Augen funkeln und lassen die junge Frau erahnen, die clever und frech, intelligent und stark ist, die sie unter ihrem Mantel aus Trauer vergraben hat.

"Na gut, doch", gebe ich zu.

Sie wirft einen letzten Blick auf mich und ihre Augen haben Farbe bekommen.

"Bis morgen, Will. Lass dir eine gute Antwort einfallen."

"Lass du dir erst einmal eine Frage einfallen!", gebe ich zurück.

Nur, damit sie noch ein wenig länger hier draußen bleibt und nicht schon geht.

Aber so ist sie nicht. Avery macht die Regeln. Sie fragt und ich antworte. Nicht umgekehrt.

Sie ist ziemlich süß dabei.

"Hab ich schon!"

Dann verschwindet sie in ihrer Wohnung und lässt mich auf dem Balkon zurück.

Ich lächele noch, als ich mich zurück an den alten Sekretär setze, Musik anmache und weitermale. Diesmal geht es wie von selbst. Farben, Explosionen, Farbwelten. Ich werde eins mit der Kunst. Oder sie ist eins mit mir. Ich weiß es nicht.






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