Second Late Night Conversation

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Avery

Das Gefühl, in einer Wohnung zu leben, die leer ist, auch wenn sie es nicht sein sollte, ist erdrückend.
Überall sehe ich ihn.
Mein Bruder ist überall.
Seine Taschenbücher einer Autorin mit dem Pseudo Nachnamen Curie liegen auf dem Nachttisch.
Im Ernst, welcher Mann liest Liebesromane?
Landon war ein Mensch, der dauernd gelacht hat.
Er war romantischer als alle Männer, mit denen ich je Dates hatte.
Er war witziger als alle Comedy Shows. Und er war intelligent genug, um mir in jedem Schulfach zu einer Eins zu verhelfen.
Heute ist ein Tag, an dem ich es halbwegs schaffe, das Bett zu verlassen. An manchen Tagen scheitere ich sogar an diesem so simpel erscheinenden Vorhaben.
Dann lese ich alle Romane dieser Autorin, auf die Landon so abfuhr.
Aus irgendeinem Grund machen sie mich ein bisschen glücklich.
Zumindest werde ich so in eine Welt geworfen, in der ich jemand anders bin. Ein Mädchen ohne Scherben.
Ein Mädchen mit Zielen und Träumen. Ein Mädchen mit einem Leben, welches es wert ist, dass jemand darüber schreibt.
Ich räume gerade das letzte Buch weg, als mein Laptop aufsummt.
Es ist eine weitere Mail der deutschen Botschaft in Mexiko.
Mexiko. Dem Land, das Landon und seine Freundin Marie so glücklich empfangen hat. Die Hochzeitsreise, aus der er bis heute nicht wiedergekehrt ist. Mexiko, das Land, das meinen Bruder seit zwei Monaten nicht mehr ausspuckt.
Wegen dem Krieg, der in Mexiko andauert, musste das Dorf, in dem Beide ein Hotel bewohnten, evakuiert werden.
Der Kontakt ist abgebrochen.
Ich weiß nicht einmal, ob Landon und Marie noch leben.
Die deutsche Botschaft sucht mit allen Mitteln, doch sie hat genauso wenig Glück wie ich.
Nicht einmal einreisen kann ich nach Mexiko. Seit Wochen kann ich nicht einschlafen, geschweige denn irgendwas machen, was sinnlos ist.
Meine oberste Priorität ist es, meinen Bruder zu finden.
Da ist kein Platz für was Anderes.
Und kein Platz für einen neuen Nachbarn, der offensichtlich interessant ist.
Einen Nachbarn, der sogar ziemlich gut aussieht.
Er soll Künstler sein, sagt Luna, meine beste Freundin, die seit Jahren in der Wohnung über mir wohnt.
Sie ist fast jeden Tag da.
Als ich gerade antworten will, klingelt es an der Tür.
„Komm rein!", rufe ich und höre, wie Luna den Schlüssel in ihrer Tasche sucht.
„Ich find ihn nicht!", ruft sie.
Ich schmunzele und gehe zur Tür.
Wenigstens dann wenn Luna da ist, kann ich die Sorge um Landon ein wenig vergessen.
„Ich habe Croissants und Kaffee", sagt sie und deckt den Tisch, während ich der Botschaft antworte.
„Was neues?", fragt sie.
„Nur eine weitere Niederlage. Sie suchen immer noch."
„Vielleicht konnte er in die USA gelangen", sagt Luna und streichelt meine Schultern.
„Du schaffst das, Avery. Ihr schafft das."
Ich schweige und trinke den Kaffee, den sie mir in die Hand drückt.
Ich wünsche mir nur noch, zu schlafen. Alle Sorgen zu vergessen.
Ich erinnere mich an gestern,
als ich darüber nachgedacht habe, zu springen. Dieser waghalsige Gedanke.
Der Künstler mit den braunen Augen, der zu großen Nase und den Sommersprossen, der mich am Arm festgehalten hat.
Ich muss weiterleben.
Für Landon und für mich.
Ich weiß momentan nur nicht, wie.

Er wartet auf dem gegenüberliegenden Balkon.
Heute beobachte ich ihn genauer.
Seine Sommersprossen umrahmen kuschelig weiche Augen, in denen ich versinken möchte.
Seine Augen stehen in alle Richtungen ab und er hat Farbe an den Händen.
Wie alt er wohl ist?
Er sieht aus wie Mitte 20. Wie ich.
Ich sehe, dass auch er mich ansieht.
Aber in seinem Blick schwingt nichts anzügliches, sondern Sorge mit.

„Hey, Will."

„Hey, Unbekannte."

Mich wundert es, dass er meinen Namen noch nicht weiß.
Er hätte ihn doch am Klingelschild nachgucken können.
Offenbar hat es ihn nicht interessiert.
Trotzdem ist er gekommen.

„Hast du eine Zigarette?"

Er reicht mir eine. Ich zünde sie an und beobachte, wie er mich anschaut.
Ein bisschen Anerkennung liegt in seinem Blick.
Mein Herz klopft ein bisschen schneller als beabsichtigt.
Er scheint jedoch keine Anstalten zu machen, zu flirten.
Es verwundert mich, ist aber genau das, was ich brauche.
Keine Beziehung.
Keine Liebe.
Keine Verwirrungen.
Ich brauche nur einen Anker in einem Ozean voller Wellen, die mich runterreißen zu drohen.

„Willst du keine?"

Er schüttelt den Kopf.

„Ich versuche, aufzuhören."

Die Kälte der Winternacht lässt mich trotz Wintermantel frösteln.

„Ich habe meine Frage für heute.
Was magst du am Leben? Warum soll ich weiterleben?"

Er schaut mich intensiv an.

„Das es einen Rhythmus hat. Morgens die Sonne, Abends der Mond.
Wir können alles beeinflussen, nur nicht die Sonnenstunden.
Auf sie können wir uns verlassen.
Wenn wir Abends ins Bett gehen, wissen wir, morgen ist ein neuer Tag voller Möglichkeiten und Dinge, die wir erleben und schaffen können.
Die Kunst, die wir erschaffen.
Durch Worte, durch Bilder.
Die Fantasie, die jeder von uns hat.
Das wir nicht wissen, wann das Leben endet und wir so das Beste daraus machen müssen...
Die Freiheit, die wir haben.
Das Gefühl, selbst zu entscheiden.
Die Jahreszeiten. Die Vielfalt und, dass sich alles ändert und doch einer Routine folgt.
Wir haben Wurzeln und wir haben Flügel.
Ohne Wurzeln würden wir davonfliegen. Und ohne Flügel wären wir festgewachsen.
Aber wir haben beides und deswegen sind wir selbstbestimmt, auf uns gestellt, frei und trotzdem niemals allein."

Will schaut in die Sterne, die sich im Main spiegeln.

„Meinst du, du hälst es bis morgen aus, ohne zu springen?"

Ich nicke ihn an.
Ich spüre die Tränen, die sich in meinen Augen sammeln.
Er trägt so viel Hoffnung und Optimismus in sich, er erinnert mich an Landon.
Will mustert mich bestürzt.

„Was ist los? Was ist passiert?"

„Ich stelle hier die Fragen", sage ich und lasse den Künstler, von dem ich nichts weiß außer dem Namen und seinem Sinn fürs Leben, hinter mir.
Genauso wie die kalte Nachtluft.
Wärme und Licht umfangen mich.
Und doch ist es, als hätte ich beides gerade hinter mir auf dem Balkon gelassen. Zusammen mit Will.

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