Kapitel 6: Mit dem Böhm kommt die Hoffnung

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Rin verbrachte die nächsten Tage hauptsächlich in der Bibliothek und las alles Mögliche über Psychologie. Sie musste sehr viel weinen. Alice und Marvin versuchten sie zu überreden wieder in den Unterricht zu kommen und mehr zu essen als eine Scheibe Brot, leider ohne Erfolg. Als Rin sich schon vier Tage dorthin zurückgezogen hatte, verirrte sich ein Junge namens Oliver in diese abgelegene Ecke.

Er entdeckte Rin und blieb stehen: «Was machst du denn da? Du siehst ja schrecklich aus. Was ist denn passiert?»

«Ich will alleine sein, bitte geh wieder», antwortete Rin und drehte sich weg. Oliver bewegte sich keinen Zentimeter.

«Warum stehst du immer noch da?»

«Ich brauche dieses Buch, das du da liest.» Rin hielt ihm das Buch hin. Während er es nahm, streifte er ihre Hand und sie zuckte zurück.

«Was hast du denn?», fragte Oliver, der sehr verwirrt war über ihre Reaktion. Da schaute er auf die aufgeschlagene Seite. Und las: Wie reagiert ein Opfer eines Sexualverbrechens? Sie zucken zurück bei ungewollten Berührungen, ziehen sich extrem von der Gesellschaft zurück und entwickeln oft

Er schaute vom Buch runter auf Rin, wieder aufs Buch und wieder auf Rin. Dann seufzte er und setzte sich hin.

«Willst du darüber reden?», fragte er sie und zeigte ihr die offene Seite.

«Wieso sollte ich dir irgendwas anvertrauen? Ich weiss nicht mal, wie du heisst», antwortete sie und ihre Tränen fingen wieder an zu fliessen.

«Dann stelle ich mich vor und wir lernen uns etwas besser kennen und du erzählst mir dann, was passiert ist. Ist das ein Deal?» Rin nickte nur und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen weg.

«Ich bin Oliver Böhm, 17 Jahre alt und im dritten Jahr. Ich liebe Filme aber nicht nur zum Schauen, sondern auch zum selber machen. Und wer bist du?»

«Ich bin Rin Nidal, 16 Jahre alt und im zweiten Jahr. Ich habe dich noch nie hier gesehen. Meine besten Freunde sind Alice und Marvin und ich denke mir gerne Geschichten und Gedichte aus.»

«Das ist doch schön Rin. Willst du mir jetzt sagen, was passiert ist?» Rin nickte und erzählte ihm unter Tränen alles. Er hörte ihr ruhig zu und sagte nichts. Als sie fertig war, atmete er tief ein, bevor er anfing zu reden.

«Rin, ich werde jetzt Alice holen. Ich werde ihr alles erklären. Ich glaube, du brauchst jetzt deine beste Freundin und solltest nicht alleine sein, auch wenn es schwer für dich ist. Ist das gut so Rin?»

«Ja, ist gut. Alice ist die mit den schwarzen Haaren und den dunklen Kleidern. Sie ist meistens im Musikraum oder auf dem Dach.» Oliver stand auf und ging. Am Ende des Ganges scheute er nochmals zurück, bevor er hinter dem Regal verschwand.

Als erstes ging er zum Musikraum. Er öffnete die Tür und da sah er sie schon am Klavier sitzen und eine wunderschöne Melodie spielen. Sie hörte auf zu spielen und kritzelte etwas auf ein Notenblatt, erst da entdeckte sie Oliver.

«Wer bist du denn?», fragte Alice verwirrt.

«Ich bin Oliver. Ich habe vorhin deine Freundin, Rin, in der Bibliothek gefunden. Sie baucht dich. Ich werde dir auf dem Weg alles erklären. Kommst du mit?»

«Ja, natürlich! Für Rin gehe ich überall hin.» Alice stand auf und sie verliessen zusammen den Raum.

Wenige Minuten später schlich Alibaba in das Musikzimmer. Sie ging zum noch offenen Klavier und nahm die Notenblätter.

«Die blöde Kuh hat wohl echt das Gefühl, dass sie am Tag der offenen Tür ein selbst komponiertes Stück spielen kann, aber nicht mit mir», redete Alibaba vor sich hin. Sie ging mit allen Blättern aus dem Zimmer und raus auf den abgelegenen Sportplatz. Dort ging sie unter einen Baum, warf die Blätter in einen Eimer und zündete sie an. Alibaba stand lächelnd da und schaute den Flammen zu, bis sie vollständig erloschen waren. Dann drehte sie sich um und ging zurück in ihr Zimmer.

Als Oliver Alice alles erzählt hatte, blieb sie stehen.

«Was ist denn Alice?», fragte Oliver, als er bemerkte, dass sie stehen geblieben war.

«Wieso hat sie mir das nicht erzählt? Ich bin doch ihre beste Freundin? Wieso verschweigt sie mir so was Wichtiges?» Alice fing leise an zu weinen.

«Sie konnte es nicht, Alice. Sie schämt sich und ist verstört. Sie wollte dich nicht damit belasten. Das ist bei Menschen nach so einem Vorfall gar nicht unüblich. Man hat Angst darüber zu reden und manchmal kann man es auch nicht, obwohl man will. Dass sie nichts gesagt hat, heisst nicht, dass sie dich nicht extrem lieb hat», versuchte Oliver sie zu trösten.

«Wieso weisst du das so genau?»

«Ich interessiere mich sehr für die menschliche Psyche und ich möchte Psychologie studieren, wenn ich hier fertig bin.»

«Ach so, das ist ja voll cool! Okay, gehen wir zu Rin, sie braucht uns.»

«Ja richtig», er hielt Alice die Hand hin und zog sie rauf.

Als sie bei Rin ankamen, fiel Rin Alice um den Hals und sie begangen beide zu weinen. Oliver stand daneben und wartete, bis sie sich wieder von einander lösen konnten.

«Alice, es tut mir so leid, dass ich nichts gesagt habe. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht», entschuldigte sich Rin unter Tränen.

«Hey süsse, entschuldige dich doch nicht. Alles ist gut! Ich bin nicht sauer oder so. Ich bin einfach unendlich froh, dass ich es jetzt weiss und du bei mir bist», unterbrach sie Alice und umarmte sie nochmals. Sie blieben noch eine lange Zeit zu dritt dort und redeten über alles Mögliche. Sie lachten nicht viel, aber es tat ihnen gut und alle waren danach glücklich so ein schönes Gespräch geführt zu haben.

Als sie schon fast zwei Stunden dort sassen, fiel Alice ihre Notenblätter wieder ein.

«Können wir sie schnell holen gehen? Sonst vergesse ich es bloss wieder», bat Alice Rin und Oliver. Sie stimmten zu und gingen los. Dort angekommen, waren die Blätter spurlos verschwunden.

«Wie kann das sein? Ich habe sie hier liegen lassen. Wo sind die hin?», fragte Alice panisch.

«Kannst du die Noten nicht einfach nochmals ausdrucken?», meinte Rin, während sie unter dem Klavier nachsah.

«Nein, kann ich nicht. Ich habe diese Melodie selbst geschrieben und nur dort drauf. Sie war für den Tag der offenen Tür gedacht. Mann! Wenn ich die nicht mehr finde, bin ich sowas von aufgeschmissen!»

«Suchen wir sie weiter, die werden schon irgendwo sein», motivierte Oliver sie und sie fingen an alles auf den Kopf zu stellen, aber sie fanden nirgends eine Spur der Blätter.

Alibaba lief an der offenen Tür vorbei und sah, wie sie verzweifelt nach etwas suchten. Sie fing an breit zu grinsen und ging weiter.

Die Achterbahn des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt