Massaker in Zürich: Amokläufer feuert 23 Schüsse ab
03.05.2019, Freitag. Bericht von Marcel Schwarz
In Zürich ereignete sich das Unfassbare: Der 17-jährige Randall Turner beging an der Sekundarschule Obergasse Amok und tötete sieben Menschen, darunter sechs Schüler und eine Lehrperson. Achtzehn Personen sind schwer verletzt. Nachdem er im Schusswechsel am Arm angeschossen wurde, stellte er sich der Polizei.
Der Junge kam ganz gewöhnlich zur Schule, nur, dass er eine Beretta 92 bei sich trug. Um 08.49 Uhr fiel der erste Schuss, erinnerte sich ein Lehrer. Kurz daraufhin folgte die Durchsage des Direktors, wo das Codewort die schreckliche Vorahnung bestätigte. Der Täter steuerte das Zimmer 19 im Erdgeschoss an, wo er einen Jungen anschoss und einen weiteren schikanierte. Nach Angaben einiger Schüler hatte die 35-jährige Lehrerin Sowena Sparrow eingegriffen und den Täter zu Boden gebracht, bevor die Polizei kam und die Kontrolle übernommen hatte.
Die grosse Frage nach dem Warum stellt sich immer. In Randalls Fall konnten wir einen Grund ermitteln, meint Polizeichef Mack Hibbert. Im Verhör hätten drei Jungen, deren Namen der Redaktion bekannt ist, zugegeben, den 17-Jährigen gemobbt zu haben. «Es ging aber weiter hinaus als das», fügt Hibbert hinzu. «Wir sprechen hier von Gelderpressung.» Anfangs waren es kleinere Beträge, doch vor einer Woche forderten sie einen Betrag, der sich auf tausend Franken belief.
Diese Summe hätte Randall nicht aufbringen können, doch aus Angst vor den gewalttätigen Folgen beging er Ladendiebstahl. Der Ladenbesitzer erstattete Anzeige, weshalb dem Jungen gemäß Jugendstrafrecht eine zusätzliche Busse drohte. «Diese gesamte Konstellation musste ihn dazu gebracht haben, den Amoklauf durchzuführen», schlussfolgert Hibbert.
Die Eltern zeigen sich erschüttert. «Wir hätten nie gedacht, dass Randall dazu fähig wäre.»
Auf dem Schulhof brennen Kerzen für die Opfer. Blumen schmücken den Asphalt, Briefe und Texte sind über den gesamten Platz verteilt. Am folgenden Sonntag sollte der Trauergottesdienst stattfinden. «Es ist sehr schwer, sich selbst einzugestehen, dass Kara nicht nach Hause kommen wird.», teilt uns eine Mutter mit, deren Tochter dem Amokläufer zum Opfer gefallen war. «Ich drücke allen Betroffenen mein Beileid aus und wünsche ihnen die nötige Kraft, mit diesem Schicksal zurechtzukommen.»
Das wünsche ich auch.
Ich faltete den Zeitungsartikel säuberlich und legte ihn in die Nachttischschublade. Der Amoklauf war schon drei Monate her. Die Trauer und der Schock hatten ein wenig nachgelassen, doch ich konnte mir nicht vorstellen, wie das für die Betroffenen sein musste. Für die Eltern, die ihre Tochter nie aufwachsen sehen werden. Für den Bruder, der an die Zimmerdecke starrt und das leere Bett ignoriert. Jeden Abend las ich den Artikel vor dem Zubettgehen durch und schwelgte in meinen eigenen Gedanken.
Auch heute konnte ich immer noch nicht fassen, welches Glück mir vergönnt wurde. Ein glatter Durchschuss am Oberschenkel. Ich hatte viel Blut verloren, konnte aber nach ein paar Tagen auf der Intensivstation aus dem Krankenhaus entlassen werden. Ich seufzte und trank den Pfefferminztee aus, bevor ich die Decke zurückschlug und darunter kroch. Ich starrte an die Zimmerdecke. Wenn ich die Augen schloss, würden mich die Bilder überwältigen.
Natürlich gab ich mir die Schuld. Als Lehrperson wäre es meine Aufgabe gewesen, die Warnzeichen zu erkennen. Seine Noten hatten sich verschlechtert. Er zog sich immer mehr zurück. Der Inhalt seiner wöchentlichen Texte veränderte sich. Ich redete mir ein, dass er in einer Phase steckte, die bald vorüberziehen würde. Ich nahm mir vor, ein Gespräch mit ihm zu führen. Dieses hatte nie stattgefunden. Denn anstatt mich mit den Anzeichen einer drohenden Gefahr auseinanderzusetzen, beruhigte ich mein Gewissen. Randall war ein anständiger Junge. Vermutlich war er einfach etwas abgelenkt― so die schlechten Noten. Vielleicht hatte er Probleme zu Hause― so seine Abwesenheit. Womöglich wollte er sich mit einem tiefgründigen Thema auseinandersetzen― so die Anspielungen auf den Tod in seinen Texten.
Im Nachhinein wusste ich, dass diese Anzeichen wirklich auf ein ernstes Problem zurückzuführen waren― Hätte ich richtig hingeschaut, hätte ich reagieren können. Doch das tat ich nicht. Und genau deshalb war es im Nachhinein zu spät für Randall gewesen.
In diesen nächtlichen Stunden, wo meine Gedanken alles andere übertönten, war die Schuld am grössten. 'Was wäre, wenn...?' – 'Hätte ich...?' – 'Wieso ausgerechnet...?' Unzählige Fragen schossen mir durch den Kopf, doch auf keine einzige hatte ich eine Antwort.
Es war schwierig, das Geschehene zu verarbeiten. Noch schwieriger war es, seinen Alltag normal weiterzuführen. Die Zeit konnte mich nicht vergessen lassen, doch sie konnte meine unsichtbaren Wunden heilen. Vielleicht nicht alle, denn manche Narben blieben für immer. Aus diesem Grund verdrängte ich die unbeantworteten Fragen, die schrecklichen Erinnerungen, die nagende Schuld, bis die Leere meine Gedanken verschluckt.
Meine Augen fallen sanft zu.
Vielleicht fühlte sich Frieden so an.
― E N D E ―
[2560 Wörter]
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Cayenne Situation (Ideenzauber 2019)
ActionDas ist Randalls Geschichte. Wie er eines Tages mit einer Pistole in die Schule kam, um sich zu rächen. Und alle Geschichten über Amokläufe Wahrheit werden liess. /// Diese Kurzgeschichte entstand im Rahmen des Ideenzauber Awards 2019 in der Kateg...