Kapitel 1
Sadie
Eine einzige Entscheidung bestimmt, ob du lebst oder stirbst.
Ein Augenblick, ein Gedanke, eine Idee, eine Situation.
Überquerst du die Straße in genau dem Moment, in dem ein Betrunkener anrauscht?
Schwimmst du viel zu weit, obwohl du weißt, du bist schon müde und schaffst kaum den Weg zurück?
Steigst du auf dieses Motorrad, zu einem Fahrer, dem du nicht zu hundert Prozent vertraust?
Manche Menschen sprechen vom Schicksal oder von einer Vorherbestimmung, die unser Leben lenkt. Aber wäre das nicht zu einfach? Wenn wir immer sagen könnten, hey, nicht du hast schuld, das Schicksal hat es so gewollt! Wäre das nicht eher eine Ausrede als eine erleichternde Erklärung?
Meine Mum klammerte sich an diesen Gedanken, obwohl er rein gar nichts besser machte. Sie glaubte an Gott, glaubte daran, dass er einen Plan für meine Schwester hatte, genau so wie er für allen von uns einen hatte.
Doch ich tat das nicht, das hatte ich noch nie. Also wieso verdammt noch mal forderte ich diesen sogenannten Gott nicht einfach hinaus? Ich müsste nur ein Stückchen nach vorne rutschen, ein kleines Bisschen weiter über die Brüstung und sehen, was passiert.
Aber was, wenn genau das mein Plan wäre? Mein Sein auf der sandfarbenen Steinterrasse meiner Tante in ihrem Strandhaus in Santa Barbara zu beenden. Was für ein schräger Gedanke.
Meine Finger umfassten die Balustrade fester, auf der ich saß. Meine Beine baumelten in der Luft und die Sonne brannte heiß auf meiner Haut. Ich schloss die Augen, versuchte, mir vorzustellen, wie es sich anfühlte, zu fallen. Einfach nur zu fallen. Obwohl ich das eigentlich jeden verdammten Tag tat. Ins Leere.
Als ich meine Lider erneut öffnete, schaute ich seufzend über den Strand, der am Ende des Gartens lag. Die Wellen, die ruhig und gleichmäßig zum Sand schwappten, um sich daraufhin wieder zurückzuziehen. Meine Schwester Amber und ich mochten diesen Platz schon als kleine Mädchen. Den Geruch von Salz in der Luft, die Geräusche, die Ruhe, einfach alles.
»Sadie!«
Ich zuckte zusammen, hielt zwanghaft meine Balance und sah wieder zu meinen Füßen, die immer noch in der Luft pendelten. Wahrscheinlich würde mir ein Sturz aus dem ersten Stock sowieso nichts bringen. Nur noch mehr Probleme und davon hatte ich bei Weitem schon genug. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf die Stimme, die sich mir näherte. »Hier bist du! Wahnsinn, das Nickerchen und die Dusche danach haben so gut getan.« Meine beste Freundin lehnte sich neben mir auf die Brüstung ab. Sie hatte ihr blondes, nasses Haar zusammengeflochten und der Kokosduft ihres Duschgels zog durch den seichten Wind zu mir herüber. »Deine Tante hat wirklich ein hammermäßiges Haus! Fast hätte ich mich verlaufen und dich nicht gefunden!«
Sie sah mich an und lächelte breit. Auch sie erkannte die Trauer nicht, die ich versuchte vor ihr zu verbergen. Weil ich es zu verhindern wusste.
»Ja, als Kind war ich immer völlig verrückt drauf, zu ihr zu den Ferien zu fahren. Vor allem wegen des Strandes direkt vor der Tür.« Ich nickte in Richtung Meer.
»Vergiss den Pool nicht!« Kat lehnte sich noch ein Stück vor, um das gigantische Schwimmbecken besser betrachten zu können, das unter uns lag. »Und dass sie uns hier den Sommer über wohnen lässt, wenn sie in Asien ist! Ich liebe deine Tante, obwohl ich sie überhaupt nicht kenne!« Kat wirkte total aufgekratzt und ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten vor Aufregung und Freude. Auch wenn mir der Abstand von zu Hause gut tat, hätte ich mir nicht vorstellen können, ganz allein hier zu sein. So war es perfekt.
Um nicht doch noch abzurutschen, kletterte ich von der breiten Steinbrüstung und stellte mich neben Kat. »Also bist du bereit, für eine Spazierfahrt zu West Beach zum besten Fischrestaurant im ganzen Ort?«
»Nein ...«
Ich runzelte die Stirn. Kat wirkte auf einmal abwesend und starrte hinter mir ins Leere. »Was, wieso nicht?«
Sie hob die Hand und ich folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Zeigefinger. »Weil ich jetzt gerade erst bemerkt habe, wie gut die Aussicht hier ist«, murmelte sie und ich drehte den Kopf, bis ich auf den Nachbargarten sehen konnte.
Als ich den Grund für Kats fehlende Worte erblickte, wurde mir einiges klarer. Ein Typ in ungefähr unserem Alter mähte den Rasen hinter dem Haus. Seine dunkelbraunen Haare glänzten, als wären sie nass, sein Oberkörper war nackt und gab den Blick auf braun gebrannte Haut, zahlreiche Tätowierungen und ziemlich definierte Muskeln frei. Entweder er verbrachte neben der Gartenarbeit Stunden im Fitnessstudio oder er war wohl vielleicht sogar tatsächlich hauptberuflicher Gärtner und arbeitete jeden Tag körperlich hart. Ich konnte mir vorstellen, dass die Frauen, die ihn für ihre Pflanzen bestellten, etwas ganz anderes im Sinn hatten, als dass er nur ihre Blumen düngte. Okay, okay, dieser Gedankengang war äußerst merkwürdig. Ich wandte mich von dem Anblick ab und schnippte vor Kats Gesicht, bis ich ihre Aufmerksamkeit hatte.
»Und jetzt bringt dich ein einfacher Typ so durcheinander, als hättest du noch nie einen halb nackten Kerl gesehen?«
Sie riss die Augen auf und atmete tief ein. »Ein einfacher Typ? Hast du ihn dir richtig angeschaut?«
Ich zuckte mit den Schultern. Wenn ich in diesem Sommer etwas nicht im Kopf hatte, dann waren es irgendwelche Bekanntschaften mit Männern, die ich nach unserem Aufenthalt hier sowieso niemals wiedersehen würde.
»Hab ich. Er ist heiß, sogar ziemlich, das kann ich zugeben, und jetzt hab ich Hunger. Andiamo!«
Kat schüttelte den Kopf und schenkte dem Gärtner noch einen sehnsüchtigen Blick. »Ich wusste, dass du durchdrehst, wenn du hungrig bist, aber wie sehr, war mir nicht bewusst. Lass uns nur noch ein paar Mi...«
»Nein!« Ich verließ den Balkon und betrat das Schlafzimmer, das ich beziehen durfte. Meine Tante hatte es ähnlich wie die anderen Räume in hellen weißen und cremefarbenen Tönen eingerichtet. Alles hier war sehr luxuriös ausgestattet und trotzdem gemütlich. Wenn ich könnte, würde ich irgendwann hierherziehen. Nicht nur, weil zahlreiche Erinnerungen an diesem Ort klebten wie Kaugummi an einem Schuh. »Komm schon, Kat!«, rief ich noch einmal und betrat die weiße Holztreppe in das unterste Stockwerk. Sie war weiträumig und von hier oben hatte man einen guten Blick auf das riesige Wohnzimmer mit einer hellen Couchlandschaft und der offenen Küche, die aus viel Chrom und Edelstahl bestand.
»Ja, ja, ich komm ja schon!«, hörte ich hinter mir und eilige Schritte auf den Stufen.
»Wenn du ihn so scharf findest, sprich ihn doch einfach an«, sagte ich und lief zu meiner Handtasche, die auf der Couch lag.
»Ihn ansprechen? Bist du wahnsinnig! Ich bin nicht wie du, Sad!«
Ich nahm mein Geld hinaus und steckte die Scheine in meine hintere Jeansshortstasche. Eigentlich hasste ich es, Handtaschen mit mir herumzuschleppen und begnügte mich meist mit ein bisschen Geld und meinem Handy in meiner Hosentasche. »Wie bin ich denn?«, fragte ich und drehte mich zurück zu Kat. Sie zögerte kurz, denn sie spürte, dass ich die Frage ernst gemeint hatte. Wer war ich noch? Jetzt, nach all dem was passiert war.
»Du bist offen, magst Menschen und kannst das Ding mit dem Small Talk ziemlich gut. Vielleicht kommt ihr ins Gespräch und du findest ihn nett.«
Ich lächelte und nahm Kats Hand, um sie zur Haustür zu ziehen. »Ich würde meiner besten Freundin doch niemals den Typen wegschnappen.«
»Noch ist er Freiwild und ich würde ihn dir sehr gerne gönnen. Das tut man schließlich unter Freunden, oder?« Ich musste lachen und schüttelte trotzdem den Kopf.
»Nein danke, auch wenn ich dein Angebot sehr zu schätzen weiß. Heute Abend ist Ladys Night und nur das!«
Kat seufzte und hakte sich bei mir unter, während wir zu meinem schwarzen Jeep Wrangler liefen, damit meine Freundin endlich auf andere Gedanken kam.
»Und wenn wir ihn nur mal fragen, ob er ...«
»Kat ... Steig ein!«
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YOU - Weil ich dich sehe
RomanceMit dieser Geschichte nehme ich ebenfalls am Schreibwettbewerb #newpipertalent2019 über die App Sweek teil. Ich würde mich über euer Like dort sehr freuen!! Es heißt, er war im Gefängnis. Es heißt, jemand wie er macht nur Ärger. Es heißt, Mädchen wi...