Auch Wassertropfen nehmen Abschied

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Auch Wassertropfen nehmen Abschied

Es war einmal ein Wassertropfen, der fühlte sich ganz furchtbar wohl. Er war umringt von anderen seiner Art, dicht an dicht standen sie zusammen, sie kicherten und plauderten den ganzen Tag miteinander, während sie sich vom Wind und den Gezeiten durchs Meer schaukeln ließen. Manchmal, wenn es Nacht wurde und das fröhliche Stimmengewirr verstummte, dann konnte der Wassertropfen seine Gedanken kreisen lassen und so oft er nachdachte, so befand er, dass er es wirklich nicht hätte besser treffen können. Er war nie alleine, bei Sonnenschein wurde er von den verschiedensten Farben, die ihm alle im Übrigen sehr gut zu Gesicht standen, durchflutet, und bevor sein Leben zu beschaulich wurde, sorgten die Stürme zu den verschiedensten Jahreszeiten für Abwechslung und Abenteuer in seinem Leben. „Heißa, da waren wilde Ritte dabei gewesen“, erinnerte er sich mit einem wohligen Schauer im Rücken.

„Apropos Rücken“, sinnierte der kleine Wassertropfen, „schon seit einer Woche fällt mir auf, dass es hinter meinem Rücken immer wärmer wird. Auch der letzte Sturm ist schon eine geraume Zeit her. Und wenn ich ganz ehrlich bin, sind auch die Farben um mich herum etwas verblasst…“. Je mehr Fahrt die Gedanken des Wassertropfens aufnahmen, umso kälter wurde es ihm um sein Herz und er konnte die Erkenntnis nicht mehr verdrängen: „Es wird sich etwas ändern.“ Panik ergriff ihn mit aller Macht, er zeterte und schrie, schlug um sich, weinte Herz zerreißend, lamentierte ob seines Schicksals, verabschiedete sich tränenreich von seinen Kumpanen und fügte sich schlussendlich wortlos in sein trauriges Los.

Er hatte sich nicht geirrt, es wurde immer wärmer um ihn herum und die Sonne, die ihm sonst mit ihrem Farbenspiel so eine Augenweide bereitet hatte, zerrte erbarmungslos an ihm. „Wie ein herrischer Kriegsgeneral forderte sie ihren Tribut ein“ – die Gedanken des Wassertropfens wurden wieder klarer – „und ich bin eines ihrer Opfer“.

Auch hiermit lag der Tropfen richtig, den im nächsten Moment vernebelte sich seine Sicht, seine sonst so klare Aura trübte sich milchig, und er wurde von einer Kraft, die unglaublich groß war immer höher gezogen. Um wenigstens nicht sehenden Auges in seinen Tod, den er nun erwartete, zu laufen, schloss der Wassertropfen fest seine Augen und wartete gefasst auf sein Ende.

Nach, wie es ihm schien, einer kleinen Ewigkeit, war aber immer noch nichts Entscheidendes passiert. Fast schon ein bisschen unwillig blinzelte der Tropfen ein wenig durch seine vorsichtig geöffneten Lider, und konnte zu seiner Verwunderung nichts Bedrohliches um sich herum entdecken, so sehr er sich auch bemühte.

„Himmel ‚Donnerwetter“, entfuhr es ihm, „wenn man mir solche Angst macht, dann sollte …“. Ja was dann sein sollte, wusste der Wassertropfen selber nicht.

„Apropos Himmel“, dachte er und riss die Augen jetzt ganz auf, „wenn ich nach unten schaue und unter mir das Meer sehe, so muss das bedeuten, dass ich jetzt im Himmel bin.“ Neugierig ließ der Tropfen seinen Blick kreisen und was er sah, entzückte ihn sehr. Viele seiner Freunde hatten die gleiche Reise angetreten und sahen ihn mit den gleichen verwunderten Augen an, das Gefühl der Angst und Bedrohtheit verließ ihn jeden Moment ein bisschen mehr. Schon oft hatte er in seinem früheren Leben einen Blick nach oben gewagt und sich gefragt, wie es da wohl wäre. Aber nie hätte er es für möglich gehalten, dass es ihn irgendwann einmal hierhin verschlagen könnte.

Nachdem ihm die Einmaligkeit dieser Chance bewusst wurde, versuchte der Wassertropfen zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen, und das möglichst alles auf einmal.

Er fasste seine Kameraden an den Händen, bewunderte die weiße Pludrigkeit seiner neuen Umgebung, fühlte, wie ein zarter Windhauch ihn vorsichtig streichelte und was ihn besonders beeindruckte, war das neue Gefühl der absoluten Schwerelosigkeit. Er fühlte sich unglaublich frei und sein Herz hüpfte vor Freude. „Wie konnte ich nur so unglaublich einfältig sein und glauben, dass das Meer die einzige mich glücklich machende Umgebung für mich sei“, und bekräftigte mit einem ungläubigen Kopfschütteln diese seine neue Erkenntnis. „Hier habe ich ja ein viel besseren Überblick und bin solchen geheimnisvollen Dingen wie dem Universum mit seinen Sonnen, Monden und Sternen viel näher“, stellte der Tropfen übermütig fest und wagte sich sogar noch weiter in seinen Überlegungen. „Selbst alle Unbilden dieser Welt wie Stürme, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Regen… . Mist, den hab‘ ich vergessen!“. Die Euphorie des Augenblicks war geplatzt und mit einem prüfenden Blick über seine Schulter stellte der Tropfen fest, dass er sich langsam aber sicher zu einem Propheten entwickelte. Die vor wenigen Augenblicken noch strahlend weiße und wattige Umgebung hatte sich zu einer steingrauen und unruhigen Masse entwickelt, die nichts Anheimelndes mehr an sich hatte. Sekündlich konnte der Wassertropfen spüren, wie die Schwerelosigkeit verschwand, und er immer schwerer und unförmiger wurde. „Änderungen, wie ich sie hasse“, dachte er noch und fühlte, wie die Angst vor den kommenden Ereignissen wieder in ihm hochkroch. Etwas verwundert stellte er fest, dass diesmal die Wut darüber , was er jetzt schönes verlieren würde, die Oberhand behielt und obwohl er sich in rasanten Tempo im freien Fall befand, erschien es ihm unwahrscheinlich, dass diese neuerliche Reise ihn das Leben kosten könnte. So grummelte er vor sich hin und sorgte sich ein wenig, wie hart wohl der Aufprall bei seiner Ankunft sein würde.

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