Pixie

982 90 61
                                    

Ich ziehe die schwarzen Spangenschuhe aus und halte sie in einer Hand fest, während ich vorsichtig über das Geländer steige. Mit dem furchtbar kurzen Kleidchen, das ich trage, tatsächlich keine so leichte Aufgabe. Etwas umständlich drehe ich mich so, dass ich mit dem Rücken zum Haus stehe und mich rückwärts am kalten Metallgeländer festhalte. Die Kante des Balkonbodens schneidet unangenehm in meine Füße, die in weißen Overkneestrümpfen stecken.

Unschlüssig schaue ich in die dunkle Tiefe hinab. In bin im ersten Stock, es sind etwa drei Meter bis zum Boden. Allerdings kann ich bei der spärlichen Beleuchtung nicht sehen, ob es weicher Rasen ist oder doch ein anderer Untergrund. Außerdem wird mich meine Mitbewohnerin garantiert erwürgen, wenn ich ihre schönen Strümpfe mit Grasflecken besudle.

»Spring nicht«, höre ich plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir.

Vor Schreck zucke ich heftig zusammen und lasse beinahe das Geländer los, als mich eine warme Hand am Oberarm packt. Reflexartig schaue ich über meine Schulter und sehe in ein Paar dunkler Augen, kann das Gesicht, das im Schatten liegt, aber kaum erkennen.

»Diese Höhe bringt dich nicht um, du tust dir höchstens weh«, sagt der Fremde und scheint keine Anstalten zu machen, mich loszulassen.

Wäre diese Situation hier gerade nicht so heikel, hätte ich wahrscheinlich gelacht.

»Ich hab nicht vor, zu springen«, gebe ich genervt von mir und schüttle seine Hand ab. »Aber fast wäre ich es wegen dir vor Schreck, Blödmann.«

Endlich lässt er mich los und entfernt sich ein paar Schritte von mir. Als er sich seitlich zur großen Balkontür, welche ins Haus führt, stellt, offenbart der sanfte Lichtstrahl, der auf ihn fällt, sein Gesicht.

Es ist Nevan McKinney, ein Kommilitone, den ich in aus dem Kurs Technische Mathematik kenne. Was heißt kennen ... Er ist mir schon häufiger aufgefallen, denn mit seinen langen, dunkelbraunen Haaren, die er oft zu einem tiefen Pferdeschwanz oder als Man Bun trägt, und die zahlreichen Tattoos, die seine Arme und Waden zieren, fällt er oftmals aus der Reihe der ordentlich gestriegelten Mathematik-Studenten, die sich ganz vorne einer jeden Vorlesung tummeln. Ich habe bereits zahlreiche Vormittage damit verbracht, schräg hinter ihm zu sitzen und möglichst unauffällig seine Körperbemalung zu bewundern. Klingt creepy? Vielleicht ein bisschen. Das Bisschen Schwärmerei gönne ich mir zwischen Integral- und Differentialrechnungen.

Nevan greift lässig in seine Hosentasche und holt eine Schachtel Zigaretten sowie ein Feuerzeug hervor. Ich beobachte ihn skeptisch. Heute trägt er seine Haare komplett offen und sie fallen ihm leicht gelockt über die Schultern. Mein Blick fällt automatisch auf seine kräftigen Arme, die leider durch eine schwarze Jacke verdeckt werden.

»Willst du auch eine, Kleines?«, fragt er unvermittelt und ich zucke ertappt zusammen. Geduldig hält er mir die Schachtel hin, während er sich mit der anderen Hand eine Kippe zwischen die Lippen steckt.

»Kleines?«, wiederhole ich entsetzt und ignoriere sein Angebot. »Hast du mich ernsthaft Kleines genannt?«

Nevan lässt den Arm sinken und zuckt mit den Schultern. »Süße? Baby? Was weiß ich, wie Mädchen wie du gerne angesprochen werden.«

Mit offenem Mund starre ich ihn an. »Mädchen wie ich? Was zum ...«

Seine linke Augenbraue zuckt, als er mich demonstrativ von oben bis unten mustert.

Oh. Gott. Mir wird heiß – und das nicht aufgrund seines durchdringenden Scanner-Blickes, sondern weil mir wieder klar wird, wie ich aussehe. Meine normalerweise naturroten Locken stecken unter einer Perücke mit mittellangen, hellbraunen Haaren und in meinem Gesicht befindet sich gefühlt eine halbe Tonne Schminke, die meine zahlreichen Sommersprossen verdeckt und meine grünen Augen riesig wirken lässt. Das enge, hellblaue Kleid mit der weißen Schleife um meine Taille und den Kunstblutflecken auf Brust und Bauch reicht mir gerade so bis zur Mitte meiner Oberschenkel. Eigentlich viel zu knapp für das, was meine Verkleidung darstellen soll. Aber Jinjin, die Kostümdesign studiert und mit der ich mir ein Zimmer im Wohnheim teile, wollte aus uns beiden die sexy Version der Grady Twins aus Stephen Kings »Shining« machen. Innerlich verfluche ich sie mal wieder, dass sie die kürzlich gewonnene Wette gegen mich ausgerechnet hierfür verwendet. Sie weiß ganz genau, dass ich ansonsten niemals mitgemacht hätte. Aber wie sagt man so schön? Wettschulden sind Ehrenschulden. Und ich weiß jetzt schon, dass es das erste und letzte Mal war, dass ich gegen sie gewettet habe.

Challenging Disasters - Trusting Me (ehemals Invisible)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt